Königskinder (German Edition)
festzuhalten, werden die Engländer wütend und drohen den Sprechern, sie in den Bunker zu werfen und den Behörden bei der Ankunft in Handschellen zu übergeben.
Bei der Ankunft wo? Das Schiff schlägt einen südwestlichen Kurs ein. Nun ist nicht nur dem erfahrenen Uwe klar: Das Reiseziel kann nicht mehr Kanada sein. Die wildesten Spekulationen machen die Runde: Steuern sie vielleicht die Bahamas an? Aus dem Hinterdeck dringt von den deutschen Seeleuten das Gerücht, es gehe nach Britisch-Guatemala. Nein, falsch, heißt es dann schon bald, der Kurs habe sich geändert. Auch von Jamaika und den Bermudas ist die Rede. Die Besatzung packt derweil ihre Tropenhelme aus und tritt in Shorts an. Viele der jüngeren Internierten schneiden sich die Hosenbeine ab.
Am zweiundzwanzigsten Juli wirft ein Internierter eine auf einem Stück Stoff geschriebene und an einem Holzlöffel befestigte Botschaft aus der Latrinenluke. Statt ins Meer fällt sie direkt vor die Füße eines Offiziers und hat eine äußerst feindselige Stimmung der Mannschaft zur Folge. Es spricht sich herum, dass die Botschaft ein Hilferuf war, der sich an den Feind richtet. Die Sprecher erhalten ein Ultimatum, bis Mittag den Übeltäter ausfindig zu machen, andernfalls würde es ein schwerwiegendes Nachspiel geben. Der Betroffene wird nie gefunden, und die Angelegenheit wird beigelegt, nachdem die Sprecher dem Offizier wortreich ihre Loyalität England gegenüber versichert haben. Eine Zeitlang sind die Offiziere während des «Hofgangs» noch aufmerksamer als sonst.
Zwei Tage später. Alles stöhnt unter der unerträglichen Mittagshitze. Nach zwei Wochen auf hoher See – Land in Sicht! An den Toiletten bildet sich eine ungeduldige Schlange. Jeder hat zwanzig Sekunden, um durch die Luke zu spähen. Freetown, Sierra Leone, Afrika! Eine von Palmen gesäumte sanfte Bucht. Palmen in freier Wildbahn, das hat noch keiner von ihnen gesehen. Bunte Kanus mit halbnackten schwarzen Menschen. «Neger!», rufen die Jüngeren aufgeregt. Aber nach zwanzig Sekunden heißt es schon «Der Nächste, bitte!».
Einem Jugendlichen, der Magenschmerzen simuliert, gelingt es, sich auf dem Weg ins Lazarett für kurze Zeit auf dem Oberdeck aufzuhalten. Aufgeregt kommt er zurück und erzählt, dass der Hafen voller Schiffe sei und schwarze Arbeiter Kisten, Fässer und Säcke durch die Ladeluke in die Tiefen des Schiffes versenken. Auf dem Kai herrsche reges Treiben, Engländer in weißen Anzügen mit Tropenhelmen und einheimische Kinder, die in Fetzen gekleidet sind. Vor allem aber schwärmt er von dem grellen Licht und dem makellos blauen Himmel.
Nun gibt es keinen Zweifel mehr: Sie werden Afrika umschiffen und über den Indischen Ozean nach Australien segeln. Erich ist zufrieden, andere zeigen sich entsetzt.
«Von dort kommen wir nie mehr weg. Das ist das Ende der Welt!»
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13
Irkas Euphorie währt nicht lang. Sie soll jetzt doch nicht ins Hotel kommen, heißt es in dem Telegramm. Die Abreise würde sich verzögern, sie müsse Geduld haben.
Eine Welt bricht für sie zusammen. Das Fieber der vergangenen Tage erkaltet zu einem Klumpen im Hals, der sie am Schlucken hindert. Sie kann nichts mehr essen. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit erfasst sie. Plötzlich ist alles anders. In Gedanken war sie schon in Australien und vergrub ihr Gesicht in die Brust ihres geliebten Jungen.
Erst gestern hat sie lange vor dem Spiegel gestanden, um sich zu begutachten. Ist sie noch schön genug für ihren Ehemann, dem selbst die englische Sonne eine exotische Bräune ins Gesicht zaubert? Wie wird er erst in Australien aussehen? Sie hat eine knollige Nase, die Wäscheklammern, die sie sich als Halbwüchsige über Nacht ansteckte, haben nichts genützt. Sie wird so bleiben, ihr Leben lang. Dieser Schönheitsfehler wird wettgemacht von ihren großen braunen Augen, die immer ein wenig traurig schauen. «Dein jüdischer Blick», hat Erich sie manchmal geneckt. Sie ist für ihn ebenso exotisch wie er für sie mit seinen blauen Augen. In ihrem Umfeld hat es niemanden mit blauen Augen gegeben. Nur die polnischen Lehrerinnen am katholischen Gymnasium, das sie als Jüdin mit Ach und Krach aufgenommen hatte, hatten welche. Irka war stets fasziniert von blauen Augen, so fremd erscheinen sie ihr, auch einschüchternd. Ein Blick in Erichs Augen, und es war um sie geschehen. So schnell hatte sie sich noch nie verliebt.
Dabei hatten sie genügend Zeit, es im Milchzug zwischen Innsbruck
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