Königskinder (German Edition)
sein Deck zurückkehren. Nach diesem Vorfall organisieren die Internierten eine Nachtwache.
Bald macht ein Gedicht die Runde, dessen Urheber es vorzieht, anonym zu bleiben. Vielleicht schreibt er normalerweise philosophische Abhandlungen und schämt sich für das schlichte Versmaß. Den Männern gefällt das Gedicht, trifft es doch genau die Stimmung aller.
Und dann kommt die goldne Küste,
Afrika, du heißes Land.
Freund, da kommt der Sohn der Wüste,
Löwenjäger der Sergeant.
Freund, was schaust du in die Wellen,
Suchst du einen Haifisch dort?
Brauchst dich gar nicht hinzustellen,
Denn der Haifisch ist an Bord.
Um Australien zu bewohnen,
Macht man dich zum Känguru,
Lehrt dich große Sprünge machen,
Leeren Beutel hast auch du.
Unrasiert und fern der Heimat,
Fern der Heimat unrasiert,
Fahren wir auf der Dunera
Nach Australien exportiert!
Deportiert auf der Dunera
Und Australien ist das Ziel,
Unsre Koffer sind erbrochen,
Unsre Hemden trägt O’Neill.
Beim Spaziergang muss man laufen,
Der Soldat schreit: «Hurry up»,
Um in Kapstadt einzukaufen,
Nimmt man uns das Bargeld ab.
Scharfe Waffen, stumpfe Zähne,
Steht der englische Soldat,
Dass man sich nicht an ihn lehne,
Schützt den Tapfren Stacheldraht.
Habet Dank, ihr lieben Köche,
Habet Dank fürs Abendbrot.
Wenn wir das gegessen hätten,
Wären wir schon lange tot.
Nach Kapstadt erhält jeder einen Apfel, einen eisgekühlten Apfel, der Granny Smith heißt, das erste frische Obst seit Liverpool. Es ist der beste und schönste Apfel, den Erich je in seinem Leben gegessen hat. Für alle ist dieser Apfel etwas Besonderes. Die Männer drehen ihn zwischen den Fingern hin und her und bestaunen seine vollendete Form wie ein Kunstwerk. Lange halten sie ihn in der Hand und beschnuppern ihn, können sich nicht entschließen, hineinzubeißen, obwohl ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. Wem anderes wichtiger ist, verwendet den grünen Apfel als Zahlungsmittel. Drei Zigaretten für einen Apfel. Oder ein Stück Brot. Oder eine Unterhose. Von nun an gibt es einmal wöchentlich einen Obsttag mit Äpfeln und Orangen. Manchmal taucht sogar ein Stück Käse auf, um das stets Verteilungskämpfe ausbrechen.
Als wäre die Gefahr, die von der Fünften Kolonne ausgehen soll, allein durch die Distanz von Europa gebannt, lässt die Spannung an Bord nach, einige Posten zeigen Anflüge von Freundlichkeit und lassen sich Informationen über den Kriegsverlauf abringen. Dass die deutsche Landung in England bislang ausgeblieben ist, erleichtert Engländer und Internierte gleichermaßen. Die politischen Emigranten leiden unter dem Informationsmangel. Wenn sie beisammensitzen und reden, was sie am liebsten tun, können sie kaum mehr als spekulieren. Wie wird die Battle of Britain ausgehen? Werden die Amerikaner in den Krieg eintreten? Wie lange wird es noch dauern? Was wird nach dem Krieg aus Deutschland werden?
Besser geht es da dem in England geborenen und irrtümlich aufs Schiff geratenen Amateurastronomen, der kein Wort Deutsch spricht und deshalb isoliert ist. Als er durch eine Luke das Kreuz des Südens am Himmel bestaunt, verzeiht er seinen Landsleuten das absurde Missverständnis seiner Deportation. Für ihn habe sich die Reise gelohnt, sagt er. Als sie in eine gewaltige Sturmbö geraten, mag er seine Meinung geändert haben. Das Schiff torkelt, als ob die Wellen mit ihm Ball spielten, und erneut werden viele seekrank.
Am elften August wird dem katholischen Priester erlaubt, an Deck die Sonntagsmesse abzuhalten, an der viele teilnehmen. Messdiener darf der sechzehnjährige Christian Donnerstein sein, der aus einem uralten österreichischen Adelsgeschlecht stammt. Sein Vater schickte ihn nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland zusammen mit seinen drei Brüdern nach England, um ihnen den Heldentod an der Front zu ersparen. Christian laufen vor Rührung die Tränen über die Wangen. «Eine Messe mitten im Indischen Ozean», murmelt der Jesuitenschüler und schüttelt seine Locken, die ihm fast bis zur Schulter reichen.
Wenige Tage später dürfen die Internierten bei ihrer exercise erstmals Schuhe tragen. Doch da die See an diesem Tag extrem bewegt ist, können die Männer diese neuerliche Vergünstigung nicht so richtig schätzen und wären lieber unter Deck in ihren Hängematten geblieben.
Am einundzwanzigsten August gelingt es Jakob Weiss, während des Deckspaziergangs um 9:38 Uhr aus dem Gänsemarsch auszubrechen und über die Reling zu
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