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Königskinder (German Edition)

Königskinder (German Edition)

Titel: Königskinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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springen. «Mann über Bord», ruft ein Matrose, und erstaunlich schnell ertönt die Schiffssirene. Von überall kommen Matrosen angelaufen. Die Motoren werden angehalten und laufen volle Kraft zurück. Es rumpelt kurz, ehe das Schiff zum Stillstand kommt. Die darauf einsetzende Stille ist unheimlich. Alles starrt ins Wasser. Rettungsringe werden ins Meer geworfen. Die See ist zu bewegt, um auch ein Boot hinunterzulassen. Mit Ferngläsern suchen die Seeleute das Meer ab, doch nirgendwo ist zwischen den Wellen ein Kopf zu sehen. Lange hätte Weiss nicht überleben können, denn in der Nähe werden Haie gesichtet.
    Als Jakob Weiss bis 10:30 Uhr nicht auftaucht, werden die drei Rettungsringe wieder heraufgeholt, und die Dunera setzt ihre Fahrt fort.
    Weiss ist aus Österreich nach England geflohen, erzählt man sich, und hat nach zwölf Monaten endlich das ersehnte Visum für Argentinien erhalten, wo seine Familie auf ihn wartet. Anstatt ihnen nachzureisen, wurde er festgenommen, interniert und auf die Dunera gezwungen. Am einundzwanzigsten August ist sein Visum abgelaufen.
    «Noch gestern hat er uns gesagt, er mag nicht mehr weiterleben», sagt einer in die Runde der geschockten Männer, und ein anderer will erfahren haben, dass sowohl der Vater als auch der Großvater von Weiss sich auf ähnliche Weise das Leben genommen haben.
    «Eigentlich ist es erstaunlich, dass sich bis jetzt nur einer umgebracht hat», sagt Otto, als die Motoren wieder laufen und sie in ihrer gewohnten Ecke hocken.
    Einige Tage darauf wird für Jakob Weiss ein Gedenkgottesdienst abgehalten. Alle sind bedrückt, einschließlich der Wachen und einiger Offiziere, obwohl wenige ihn persönlich gekannt haben. So mancher Internierte erschrickt vor der Einsicht, dass es in einer Phase der Niedergeschlagenheit auch ihn selbst hätte erwischen können.
    Der Indische Ozean ist wild. In der Nacht nach dem Gottesdienst wuchten gigantische Wellen das Schiff wie eine Nussschale in die Höhe, es kracht in allen Fugen, und die Decks heben und senken sich im spitzen Winkel. Was nicht niet- und nagelfest ist, fliegt durch die Gegend. Manche werden von der Bewegung des Schiffes aus ihren Hängematten geschleudert.
    Die stürmische See durch die Luken der Duschräume zu beobachten ist ein einzigartiges Schauspiel. Für kurze Zeit klammert sich das Schiff an den Wellenkamm, nur um danach mit schwindelerregender Geschwindigkeit ins Tal abzustürzen. Keiner der Männer hat so etwas je zuvor erlebt. Das Deck ist von Seewasser umspült und rutschig. Das Essenholen gerät zu einem kaum zu bewältigenden Balanceakt, Porridge ergießt sich über die Treppe. Der Koch hat sich sicherheitshalber angeseilt. An Erichs und Ottos Tisch isst man mit geschnitzten Holzstäbchen, da einer nach dem Abwasch das Spülwasser mitsamt den Löffeln ins Meer geschüttet hat.
    Die Jugendlichen genießen das Zerren der Winde an ihren Haaren und die salzige Gischt in ihrem Gesicht. Eines Tages werden sie etwas zu erzählen haben. Später. Wo werden sie später sein? In Australien? In Amerika? In Deutschland? Alles ist offen. Selbst Erich, den die Sorge um Irka umtreibt, lacht in den wilden Wind.
    Inmitten dieser von Urgewalten gebeutelten Fahrt findet Otto den Zeichner, von dem er manchmal Papier bezieht, zusammengekauert auf der Treppe.
    «Was ist los, Siegi?»
    «Heute ist mein Geburtstag. Meinen achtzehnten Geburtstag habe ich mir anders vorgestellt.»
    «Herzlichen Glückwunsch. Den hätten deine Eltern sicher gern mit dir gefeiert. Weißt du, wie es ihnen geht?», fragt Otto, vielleicht nicht das Klügste, denn diese Frage bringt Siegi nun endgültig zum Weinen.
    «Das ist es ja. Ich habe keine Ahnung, ich bin ja allein nach England gekommen. Die Auswanderung hat die ORT-Schule organisiert – weißt du, was das ist?»
    «Nein, erzähl.»
    «Das war eine private jüdische Berufsschule in Berlin, in der Jugendliche auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Viele von uns Jugendlichen hier auf dem Schiff sind über diese Schule nach England gekommen. Bei mir hat es eine Ewigkeit gedauert, bis ich endlich aus Deutschland wegkam. Am Ende stand es auf Messers Schneide, im August neununddreißig hatte ich endlich die Ausreisegenehmigung, eine Woche vor Kriegsausbruch, was ich damals nicht wusste. Ich sehe noch meine Eltern auf dem Bahnhof Charlottenburg, meine Mutter hatte ganz rote Augen vom Weinen. Es war mir peinlich. Und ich habe noch gesagt: Ihr hättet doch nicht kommen

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