Königskinder (German Edition)
Fliegen über Fliegen –, werden Teil ihres Alltags. Einer, den die Fliegen besonders mögen, hat längst aufgegeben, sie zu verscheuchen. Wenn er im Freien sitzt und aus herumliegenden Holzresten Kochlöffel, Kleiderbügel, Brieföffner und Zigarettenspitze schnitzt, die er später verkaufen will, ist sein nackter Oberkörper von Fliegen übersät. Er sieht aus, als trüge er ein Kettenhemd. Und ein Zoologe hat sich Kästen gezimmert, in die er alles aufspießt, was ihm an Insekten über den Weg läuft.
Im Lager ist viel Zeit für Spinnereien. Für jene, die sich nicht wie Erich und Otto Sorgen um ihre in Europa verbliebenen Frauen machen, könnte das Lagerleben ein Paradies sein. Man muss keine Miete bezahlen, wird eingekleidet, ernährt und arbeitet nur dann, wenn man Lust dazu hat oder Geld braucht, um sich Rasierklingen zu kaufen oder die Haare schneiden zu lassen.
Die verschiedenen religiösen Gruppen organisieren sich, und konfessionsgebundene australische Organisationen schicken Spenden ins Lager. Wer sich als Katholik, Protestant oder Jude zu erkennen gibt, kann sich eine Tube Zahnpasta, eine neue Hose, einen Fußball oder ein Buch schenken lassen, gespendet jeweils von einer der karitativen Organisationen.
«Verblüffend, wie schnell die Leute bei jeder neuen Spendenlieferung die Religion wechseln», amüsiert sich Erich.
«Und jetzt hat YMCA auch noch Weihnachtskarten gestiftet. Hast du sie schon gesehen?», fragt Otto. «Extra für uns entworfen. Ein Lager mit Hütten, Stacheldraht und Eukalyptusbäumen. Jeder von uns erhält zwei Karten.»
«Die Chassiden werden sich bedanken!»
Eukalyptusbäume gibt es im Camp Hay nicht, und der Mangel an Grün sorgt bei manchen für depressive Stimmungen. Allerdings fällt auf, dass am Rande der Essensbaracken, wo regelmäßig Spülwasser ausgeschüttet wird, wilde Melonen zu wachsen beginnen. Es fehlt also nur an Wasser. Und schon bildet sich eine Gartengruppe. Lagerkommandant Sealdwell beschafft Samen, und in Kürze entsteht um die Essensbaracken ein üppiger kleiner Park mit Gras, Blumen und allerlei australischem Gewächs, der mit Begeisterung aufgenommen wird. Umso mehr, als dort bald ein Haustier Einzug hält. Einer der Männer, der zu einem freiwilligen Arbeitseinsatz außerhalb des Camps war, hat eines Tages ein Kängurujunges mitgebracht, dessen Mutter von einem Schafzüchter erschossen wurde. Nachts schläft es bei den Kommunisten in Hütte 28 in einem am Bettpfosten aufgehängten Stoffbeutel, am Morgen wird es aus einer enghalsigen Flasche mit Milch gelabt und hoppelt tagsüber zufrieden im Garten herum. Schon trauern alle dem Tag entgegen, an dem man das Tier wird in die Freiheit entlassen müssen.
In der Lagerzeitung Camp News wird der Alltag mit Texten, Gedichten und Karikaturen beschrieben und kommentiert. Sie entsteht in den Abendstunden, wenn die Schreibmaschine des Camp-Büros frei ist, und hängt morgens in vier Exemplaren an den Wänden der Essensbaracken. Ähnlich sieht es im Nachbarcompound aus, dessen Lagerzeitung The Boomerang heißt. Obwohl zwischen den beiden Lagerteilen in der ersten Zeit keine Verbindung besteht, entwickeln sich fast identische Strukturen. Ein australischer Arbeiter, der täglich das Fleisch ins Lager bringt, schmuggelt manchmal eine Zeitung in Camp 8, sodass es in der Camp News zuweilen auch politische Nachrichten gibt, um deren Lektüre sich die Männer balgen.
Besonders frustrierend sind Berichte von Mitinternierten, die durch Briefe von der Freilassung ihrer Freunde aus britischen Lagern erfahren haben. Sie dienen nun in der Armee und leisten ihren Beitrag zum Kampf gegen die Nazis, während die Internierten in Hay als «feindliche Ausländer» hinter Stacheldraht zur Untätigkeit verdammt sind und draußen das Morden weitergeht.
Bald setzt Sealdwell den Bezug einiger australischer Tageszeitungen durch, zu denen Erich als Mitarbeiter der Kantine privilegierten Zugang hat. Ende Oktober kann er sich ein Bild von der Lage in London machen.
Camp 8, Hut 18, Hay, 31. Oktober 1940
My dear Irene, eben habe ich drei Briefe von Dir erhalten, die Du ungefähr Mitte Juli geschrieben hast. Seit Deiner Postkarte vom 7. August bin ich ohne Nachricht. Meine Liebste, ich kann Dir gar nicht sagen, wie besorgt ich bin. Wir können hier nicht mehr tun, als immer wieder darum bitten, mit unseren Frauen wiedervereint zu werden, aber wir sind am anderen Ende der Welt, und wie es scheint, hat man uns vergessen. Mir selbst geht es
Weitere Kostenlose Bücher