Königskinder (German Edition)
jemals wiederbekommen werden.
Im Dezember ist in Hay Hochsommer. Von Tag zu Tag wird es heißer. Wenigstens haben nun alle Hüte erhalten, doch die Haut der meisten hat schon längst die Farbe rostbrauner Erde angenommen. Jede Bewegung kostet Kraft. Tagsüber ist es unmöglich, in den Hütten zu verweilen. Um die Mittagszeit bauen sich seltsame Luftspiegelungen auf; der nahe gelegene Fluss Murrumbidgee tritt über die Ufer, und die Gummibäume werden von blauen Wellen umspült. Gegen Abend löst sich die Fata Morgana auf. Dann fegen gespenstische Wirbelstürme durchs Lager und verschwinden in der Ferne. Das Wasser wird rationiert. Nach dem Mittagessen dösen die meisten, wo immer sie Schatten finden. Nachts wälzen sie sich schlaflos auf ihren Pritschen, gequält von Hitze, dem hohen Ton der Moskitos in den Ohren und der Angst vor dem Juckreiz, der sich vorbereitet.
Eines Nachts kündigt sich ein Wetterumschwung an. Die Männer können nicht schlafen, das Atmen fällt schwer. Am Morgen sind Arme und Beine wie Bleiklumpen. Die Sonne ist von einer dünnen Gazeschicht überzogen, die sich zu einer dunklen Wolke ballt und den Himmel blaugrau färbt. Es herrscht eine unheimliche Stille, sogar die Papageien sind verstummt. Gegen Mittag färbt sich der Himmel erst orange, dann schmutzig rot, und urplötzlich kommt ein heulender Sturm auf, der den Himmel in tiefes Schwarz taucht. Es ist wie das Ende der Welt. Die Erde scheint sich zu heben, als wolle sie wegfliegen. Enorme Mengen schwarze Erde und feiner roter Sand werden durch die Luft gewirbelt. Der Sand rieselt durch jede Ritze der Hütten, bis alles von einer dicken roten Schicht überzogen ist. Er dringt in Ohren und Nase, verklebt die Augen, knirscht zwischen den Zähnen, peinigt die Haut wie mit tausendfachen feinen Nadelstichen. Man fürchtet zu ersticken. Jeder schützt sich, wie er kann. Von einer Sekunde zur nächsten ist der Spuk vorbei. Noch ein Augenblick tiefer Ruhe, dann beginnt es zu regnen. Die Männer stürmen aus den Hütten, halten ihre schweißgebadeten, von Sand überzogenen Gesichter gegen den Himmel, öffnen die verklebten Münder und applaudieren wie im Theater. Wie aus vollen Eimern prasselt das erlösende Nass vom Himmel.
Danach bricht in den Hütten das Großreinemachen an.
Schon am nächsten Tag flimmert die Luft wie zuvor, und auch die Fliegen sind wieder da. Herzkranke und Asthmatiker haben es schwer.
Anfang Dezember lässt der britische Minister für Innere Sicherheit verlauten, die Deportierung der Internierten nach Kanada und Australien sei ein Fehler gewesen. Die Männer in Australien wissen zwar aus den Zeitungen, dass ihr Schicksal in London zu heftigen Auseinandersetzungen im Unterhaus geführt hat, dass Kirchenleute, Menschenrechtler und Demokraten auf eine Revision drängen, und sie fühlen sich dennoch von aller Welt verlassen. Man hat sie ans äußerste Ende der Welt verfrachtet und hofft nun, so glauben sie, dass sie über den Rand fallen und im Orkus verschwinden. Viele können die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, nicht akzeptieren. Andere nehmen es mit Humor. Einer schreibt ein Gedicht, in dem er sich und seine Kameraden «Seiner Majestät höchst loyale Internierte» nennt.
Die Juristen im Camp formulieren Petitionen für die Freilassung oder den Rücktransport der zu Unrecht Eingesperrten, die im Lagerparlament bis auf das letzte Komma diskutiert werden. Ein Schreiben an Earl Lytton, den Vorsitzenden des Beirats für die Untersuchung der Lage der internierten Flüchtlinge, erklärt die Paradoxie, dass sie in England als deutsche Staatsbürger gelten, obwohl sie allesamt Verfolgte des Naziregimes und zudem zu neunzig Prozent Juden seien, denen die deutsche Staatsbürgerschaft längst aberkannt wurde. Das Dokument beklagt, dass die Männer nicht als Flüchtlinge, sondern als Kriegsgefangene angesehen werden, mit all den damit verbundenen Einschränkungen, und schließt mit einer Reihe von Vorschlägen, wie den Internierten das Leben erleichtert werden könne.
Wer Freunde oder Familie in England hat, bombardiert sie mit Bitten, sich für sie bei der Regierung, der jüdischen Gemeinde, den Kirchen, den politischen Parteien einzusetzen. Verstanden fühlen sie sich nur vom Lagerkommandanten. Der unterstützt jede künstlerische und akademische Initiative, die die Männer aus ihrer erzwungenen Untätigkeit reißt, er hilft, Verbindung zu australischen Hochschulen herzustellen, und beschafft Lehrmaterial und
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