Königskinder (German Edition)
werde ich in einer Uniform bei Tisch bedienen und «Yes, Madam» sagen. Brrr. Um wie viel lieber möchte ich interniert sein, aber man will mich nicht internieren. Oh Gott, könnte ich nur zu Dir fahren! Junge, Junge, denkst Du oft an mich? Werden wir uns noch kennen, wenn wir uns wiedersehen? Nein, fremd werden wir einander nie sein, auch wenn es noch Jahre dauern sollte. Es gibt eine Idee, die uns verbindet, der Kampf um die Freiheit. Und unsere Liebe und Freundschaft sind viel mehr als bloße Gewohnheit.
Ich werde Dir sofort berichten, wenn ich zu arbeiten anfange. Vielleicht wird noch alles gut.
Deine Irka
Weil der Brief in deutscher Sprache abgefasst ist, fügt der Zensor am Ende dazu: If not in English, language of letter must be written on envelope. Censor. Von da an schreiben sie einander nur noch auf Englisch.
Camp 8, Hut 18, Hay, 4. November 1940
Dearest Irene, Deine letzten beiden Briefe wurden mir vom Lager Huyton weitergeleitet. Als Du sie geschrieben hast, war ich schon über eine Woche auf See. Seit Deiner Postkarte vom 7. August habe ich keinen einzigen Brief von Dir erhalten und mache mir große Sorgen. Könntest Du mir bitte ein einziges Telegramm schicken, damit ich weiß, wie es Dir geht? Dieser Brief sollte Dich zu Weihnachten erreichen, ich wünsche Dir für diesen Tag das Allerbeste. Für Deinen Geburtstag kommen meine Wünsche zu spät, aber sie unterscheiden sich nicht von dem, was ich immer wünsche, vom Aufstehen am Morgen bis zum Schlafengehen. Ich selbst bin bei guter Gesundheit, aber das ganze Leben ist in diesen Zeiten nicht viel wert. Uns fit zu halten für eine bessere Zukunft ist alles, was wir vorläufig tun können.
Dein Eric
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22
Im Camp geht das Fußballfieber um, und wer Fußball nicht mag, spielt Handball, Faustball oder Tischtennis. Die meisten aber mögen Fußball, entweder aktiv als Kicker oder als Zuschauer. Er wird bald zum Mittelpunkt des Lebens der meisten Jugendlichen, von den Chassiden abgesehen, die ihre schwarze Kleidung nie ablegen und am liebsten in der Hütte verweilen, weil die australische Sonne ihnen in den an das Lesen im Dämmerlicht gewöhnten Augen brennt. Unter tatkräftiger Mitarbeit von «Klein Moskau», deren Mitglieder sich aus konspirativen Gründen «Freunde» nennen, werden Clubs mit klingenden Namen gegründet: Admira Wien, Hertha BSC, Juventus, Real. Zum Geburtstag gratuliert der jeweilige Club seinen Mitgliedern mit einer handgemalten Grußkarte. Die Tore werden aus Bauholz gezimmert, Strafraum und Mittellinie mit hellem Kies oder Mehl markiert. Die Mannschaften nehmen ihre Sache ernst.
Das Länderspiel Deutschland–Österreich, für das unermüdlich trainiert wird, ist für einen Samstagnachmittag angesetzt. Die Stimmung ist von Anfang an aufgeheizt, tiefsitzende Ressentiments kochen hoch. Die Jugendlichen kämpfen verbissen um den Sieg ihrer Länder, aus denen sie vor nicht allzu langer Zeit vertrieben wurden. Es regnet Beschimpfungen: «Scheißpiefkes» oder «Saupreißn» brüllen die einen, «Kamerad Schnürschuh», «Schlawiner» oder «Schluchtenscheißer» die anderen. Johlend ziehen die siegreichen Österreicher durchs Camp, während sich die Deutschen deprimiert in ihre Hütten verkriechen.
Otto schüttelt den Kopf. «Ob es einmal eine Zeit geben wird, in der Nationalismus keine Rolle spielt?»
«Das Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen, ist erschreckend», pflichtet ihm Erich bei. «Deshalb hab ich Fußball immer abgelehnt. Die Länderspiele haben doch nur die Funktion, den Nationalismus anzuheizen. Warum sollte ich ausgerechnet für ‹mein Land› kicken? Zumal in der gegenwärtigen Zeit.»
«Das einzig Positive daran ist, dass es hier im Camp wenigstens noch ein Österreich gibt.»
Die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Deutschen lassen sich mit keiner noch so lupenreinen antinationalistischen Haltung wegdiskutieren. Die Pünktlichkeit und Korrektheit der Deutschen, die Titelsucht der Österreicher – im Camp wimmelt es von Doktoren, die auch als solche angesprochen werden – und die Lust der Wiener am mäandrierenden Gespräch bilden nicht selten eine Quelle der Heiterkeit und manchmal der Irritation.
Ansonsten gewöhnen sich die Internierten an die Hitze am Tag und die Kälte in der Nacht. Sie lernen den verkehrten Sternenhimmel zu lieben, und auch die verschiedenen Insekten, die das Lager bevölkern – Skorpione, Riesenspinnen, Ameisen, Heuschrecken und Fliegen über
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