Königskinder
Familien und alten Menschen brutal und gesetzeswidrig das Gas oder den Strom abdrehen, wenn sie mit der Zahlung in Verzug kommen. Mir schauderte bei der Erkenntnis, dass ich um ein Haar selbst einer dieser Unmenschen geworden wäre. Aber zum Glück ist das so im Leben: Die Dinge ändern sich.
Kapitel 19
2009
E s ist erstaunlich, wie ein Mensch sich verändern kann, ohne sich zu verändern.
Ich habe mich schließlich doch dazu durchgerungen, das Geld von meinem Vater anzunehmen – und Alabama sein Darlehen auf Heller und Pfennig zurückgezahlt. Der warme Geldregen kam für ihn genau zur richtigen Zeit. Alabama Karl hat es tatsächlich geschafft, fast sein gesamtes Vermögen in nur fünf Jahren zu verbraten: der Lebensunterhalt für seine Oasen-Kommune, Drogen, Partys, Reisen, »Kredite« an »Freunde« und ein paar unfassbar dumme Investment-Entscheidungen, zu denen er sich von windigen Beratern überreden ließ. Mich hat er nie nach meiner Meinung gefragt. Selbst schuld.
Ich bin jetzt neununddreißig Jahre alt, diplomierte Betriebswirtschaftlerin und leite einen ziemlich erfolgreichen Internet-Versand für esoterische Literatur, Asien-Kitsch, Tee und neuerdings auch Gewürze. Ich habe drei Angestellte, eine Eigentumswohnung in Winterhude und unterstütze meine Mutter finanziell, die inzwischen nur noch fröhlich durch die Tage trödelt, Nordic Walking macht und dreimal die Woche in zwei verschiedenen japanischen Tao-Trommelgruppen aktiv ist.
Die unglaublichste Entwicklung ist aber eine ganz andere: Ich hatte seit über einem Jahr keinen Sex mehr. Außer mit mir selbst!
Und doch habe ich, wenn ich morgens in den Spiegel schaue, nicht das Gefühl, dass ich wirklich ein anderer Mensch geworden bin. Ich bin immer noch ein kleines Mädchen. All die Vernunft, die mit dem ernüchternden Prozess des Erwachsenwerdens zwangsläufig in mein Hirn einzog, all die Vorsicht und das Misstrauen, zu denen ich mich nach den Enttäuschungen meines Lebens inzwischen zwinge, und auch die Tatsache, dass die Zahl der Männer, die mich anbaggern, langsam, aber stetig sinkt, haben nichts daran geändert. Ich bin, wer ich bin: Saraswati, das wilde Träumerle. Man sieht es nur nicht mehr auf den ersten Blick. Und auf den zweiten vielleicht auch nicht. Aber die souveräne und etwas harte Fassade, die ich mir aufgebaut habe, bröckelt, sowie man sie anstupst.
Leider will kaum noch jemand stupsen.
Ich habe neulich wieder eine streunende Katze aufgesammelt und bei mir aufgenommen. Ich gebe meinen Angestellten mehr Urlaub als andere Arbeitgeber, und wenn sich mich fragen: »Kann ich heute früher gehen?«, frage ich nicht, wieso. Ich nicke nur. Ich setze mir oft drahtlose Kopfhörer auf und tanze durch die Wohnung, am liebsten zu alter Musik: The Stranglers, The Clash, Toy Dolls, Peter and the Test Tube Babies. Es geht mir gut. Ich stehe auf eigenen Beinen, habe viele Bekannte, mache schöne Dinge. Aber ich bin allein.
Dabei brauche ich gar keinen strahlenden Prinzen auf einem edlen Ross. Ich brauche einfach jemanden, der mich liebt, der für mich da ist, der mich sieht, hört, fühlt und will. Und – ganz wichtig! – bei dem es mir genauso geht. Es klingt wie die leichteste Sache der Welt und scheint doch, zumindest in meinem Fall, absolut unmöglich zu sein. Wie Gebärdensingen oder Einhandklatschen.
Manchmal liege ich nachts wach, neben meiner hochgepäppelten Katze, und frage mich, warum ich ums Verrecken nicht die Liebe finde. Bin ich wirklich so unwürdig? Gibt es tatsächlich niemanden auf der ganzen Welt, der mich zu schätzen weiß? Jemanden, der für mich da sein könnte … und das auch möchte? Jemanden, der ein kleines Stückchen seiner selbst für mich hinzugeben bereit wäre.
Ist das wirklich zu viel verlangt?
*
Hassan lachte mich manchmal aus: »Du bist wirklich voll der Gandhi geworden, Mann!« Er bekam dann immer einen Ellbogen in die Rippen – nicht von mir, sondern von Sophie.
»Ich finde es super, was du alles für andere tust«, sagte sie. »Aber vergisst du nicht vielleicht manchmal auch, etwas für dich zu tun?«
Vielleicht übertrieb ich es wirklich … Wobei, nein, eigentlich bin ich mir sehr sicher, dass es richtig war, was ich tat. Ich war inzwischen auch noch bei einer Organisation aktiv, die nachmittags Schulkindern in Einzelsitzungen aus Büchern vorliest und mit ihnen redet. Ja, einfach nur redet. Man glaubt es kaum: Die übelsten Schläger-Kids legen schneller als erwartet ihre aggressiven
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