Königskinder
ein billiges Pre-Paid-Gerät, das sie nur noch im Notfall benutzen durfte und das gar nicht erst die Möglichkeit bot, sich Klingeltöne und anderen Schnick-Schnack herunterzuladen. Ich brachte ihr bei, dass DVD-Spieler, MP3-Player, Make-up und Klamotten weniger wichtig waren als eine gesündere Ernährung und die Möglichkeit, Miete, Strom und Heizung regelmäßig und pünktlich zu bezahlen.
Ich ging mit ihr zum Media Markt, wo sie sich ein paar Wochen zuvor eine sauteure Espressomaschine auf Kredit gekauft hatte. Natürlich hatte sie den Kassenzettel längt verloren. »Aber die Verkäuferin, die mich damals bedient hat, hilft uns sicher weiter«, sagte Jennifer. »Das war voll die Nette!« Dummerweise hatte sie inzwischen gekündigt. »Ihr Alter hat was geerbt und jetzt hat sie ausgesorgt«, erklärte mir ein pickliger Verkäufer mit einem chinesischen Tattoo im Genick. Der Jungspund nahm die Kaffeemaschine nach einigem Hin und Her zurück.
Jennifer und ich sammelten all ihre Sachen aus den Wohnungen zusammen, in denen sie zuletzt untergeschlüpft war. Auf diese Art lernte ich drei ihrer Ex-Freunde kennen. Irgendwelche Typen, denen sie sichtlich scheißegal war, von denen Jennifer aber glaubte, sie hätten sie geliebt. »Drei Wochen lang oder so«, sagte sie achselzuckend. Sandys Vater war nicht dabei. Jennifer wusste nicht einmal dessen Namen. »Wahrscheinlich war’s der süße Typ, den ich im Beachclub kennengelernt habe. Der war aber nicht aus Hamburg. Er hat gesagt, dass ich wahnsinnig gut küssen kann. Wann bist du eigentlich das letzte Mal so richtig toll geknutscht worden, Mark?«
Jennifer war eine unbestreitbar schöne Frau, wenn sie nicht gerade verheult und durchnässt auf Mauervorsprüngen hockte, aber ich gab der Verlockung ihrer eindeutigen Angebote nie nach. Sie war wie ein kleines Kind, das ich aufs Leben vorzubereiten versuchte. Und ich blieb eisern in meiner Rolle als Vater Teresa. Ich war ihr kastrierter Schutzpatron. Für ein paar Wochen wohnte Jennifer sogar bei mir, bis ich die städtische Wohnungsbaugesellschaft überreden konnte, ihr trotz SCHUFA-Eintrag eine kleine Wohnung zu geben. Das Sozialamt zahlte ja.
In den paar Wochen bei mir stieg sie täglich in die Badewanne. Zum einen, weil sie in ihrem ganzen Leben immer nur in Wohnungen mit Dusche gelebt hatte, zum anderen, weil sie so eine Ausrede hatte, fast nackt, nur notdürftig mit einem Handtuch umhüllt, durch das Haus laufen zu können. Sie wollte mich unbedingt angeln. Und der Köder war zugegebenermaßen sehr verführerisch. Aber Gott sei Dank siegte jedes Mal, wenn sie sich mir darbot, mein gesunder Menschenverstand. Der ist eben sehr ausgeprägt.
Das ist lange her. Inzwischen hat Jennifer einen neuen Freund – ein ziemlicher Idiot, aber immerhin treu und kein übler Typ. Er hat einen Job und überlegt sogar, am Wochenende noch nebenbei zu arbeiten: »Ich muss meinen Mädchen doch was bieten können, weißt du.« Sandy nennt ihn Papa. Und Jennifer strahlt jedes Mal, wenn ich sie treffe: »Nick ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe.«
Ich habe die große Liebe immer noch nicht gefunden, aber durch Jennifer meine Berufung entdeckt. Seit 2004 leiste ich regelmäßig ehrenamtlichen Dienst bei der Hamburger Schuldnerberatung. Ich bin echt gut darin. Noch nie konnte ich mein Talent für Zahlen und Problemlösungen sinnvoller einsetzen als hier. Ich arbeite auch bei der Hamburger Tafel, die Obdachlose mit Essen versorgt. Ich will nicht angeben, aber ich habe da einiges neu strukturiert, und die guten Taten gehen jetzt viel effizienter als vorher vonstatten.
Ich schäme mich inzwischen dafür, aber früher dachte ich, die Menschen, denen ich nun half, wären Parasiten. Dass das alles Abzocker, Sozialschnorrer und faule Loser seien. Auf ein paar wenige trifft das sicher auch zu. Aber das Gros dieser Leute kann sich einfach nicht selbst helfen. Diese Menschen sind in einem Teufelskreis gefangen. Sie würden liebend gerne sinnvoll in der Gesellschaft funktionieren – und deswegen ist es die Aufgabe ebendieser Gesellschaft, ihnen zu erklären, wie das geht, und ihnen eine, zwei, notfalls auch drei Chancen zu geben, sich zu bewähren.
Die wahren Parasiten sah ich stattdessen in den Banken, die diesen Menschen Wucherkredite aufschwatzten und ihnen vorgaukelten, die Rückzahlung würde nie ein Problem werden. In Versicherungen, wo Moral und Anstand offenbar als Schimpfwörter gelten, und bei den Energiekonzernen, die
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