Königskinder
Stadt circa zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung nachbaute. Das Modell basierte auf archäologischen Funden, die man ein paar Jahre zuvor gemacht hatte, auf Grundrissen, die – teilweise leider widersprüchlich – rekonstruiert worden waren, und auf diversen Büchern über altindische Architektur. Der Stadtkern würde am Ende eine Platte von vier mal sieben Meter Größe bedecken. Ich würde dieses Modell niemals in einem Stück aus meinem Keller herausschaffen können. Aber das war egal. Ich machte das ja sowieso nur für mich. Es machte mir Spaß.
Ich werkelte gerade an den Stufen, die zu einem Tempel hochführen sollten, als mich die Erkenntnis plötzlich traf wie ein Blitz. Nur eine Straße von dort entfernt, wo ich Jennifer aufgesammelt hatte, befand sich die Babyklappe! Dort konnten Frauen, die sich nicht mehr in der Lage sahen, ihr Kind zu versorgen, die Babys sicher und anonym in treusorgende Hände abgeben.
O Gott, das war es: Jennifer hatte ihr Baby weggeben wollen!
Deshalb war sie so am Boden zerstört!
Und jetzt? Jetzt war sie von der Klappe total weit entfernt. Würde sie friedlich schlafen? Oder würde sie wach liegen und nicht wissen, was sie tun sollte? Würde sie das Baby anschauen und sich fragen, was sie nun damit machen sollte? Ob sie es nun irgendwo sonst entsorgen würde? Der Stadtpark war gleich gegenüber ihres Hotels! Da gab es reichlich Mülleimer und Gebüsche! Würde sie so etwas tun? Ich wusste es nicht. Ich kannte sie ja nicht einmal!
Ich stürmte aus dem Haus und sprang in mein Taxi. Ich fuhr viel zu schnell, wurde an einer dunkelorangefarbenen Ampel geblitzt, was mir egal war, und kam nicht einmal zwanzig Minuten später mit quietschenden Reifen vor dem Hotelfoyer zum Stehen. Der junge Mann an der Rezeption sah mich erst erstaunt an. »Die Frau mit dem Baby«, sagte ich atemlos zu ihm. »Ist sie noch in ihrem Zimmer?«
»Ja«, sagte er. »Die ist nicht wieder runtergekommen.« Er grinste mich an. Wahrscheinlich dachte er, ich würde jetzt das nachholen, was ich zuvor aus unerklärlichen Gründen unterlassen hatte.
»Gut«, sagte ich – und verließ das Hotel wieder. Den jetzt restlos verwirrten Blick des jungen Mannes im Genick.
Auf dem Parkplatz vor dem Hotel blieb ich in meinem Auto sitzen und beobachtete den Eingang. Ich würde sehen, wenn Jennifer mit dem Kind das Hotel verließ. Und dann konnte ich eingreifen.
*
Ich war so stolz! Nach zwei Jahren Abendschule und unzähligen durchbüffelten Nächten hatte ich mein Abitur geschafft! Und weil BWL und Politikwissenschaften keinen hohen Numerus clausus hatten, konnte ich sofort mit dem Studium beginnen.
Als ich an meinem ersten Tag als Studentin auf den Campus kam, nach einigem Suchen den richtigen Hörsaal fand und dort Platz nahm, hätte ich vor Glück quieken können. Ich will nicht ausschließen, dass ich es sogar leise getan habe.
Und nicht nur mein Horizont erweiterte sich – auch meine Sicht der Dinge wurde zusehends eine andere. Zweieinhalb Jahre im Media Markt können das bei einem Menschen bewirken. Es gibt den Spruch: »Ein junger Mensch, der kein Kommunist ist, hat kein Herz. Ein alter Mensch, der immer noch Kommunist ist, hat kein Hirn.« Ich war zwar noch nicht alt – obwohl zu meinem Entsetzen mit vierunddreißig Jahren bereits die ersten kleinen Dellen an Arsch und Oberschenkeln auftauchen –, aber dieser Spruch traf tatsächlich auf mich zu.
Während des Studiums lernte ich, dass die Helden meiner Jugend gar keine Heiligen waren (Was Che Guevara über die Verwerflichkeit und Asozialität des Individualismus gesagt hat – schrecklich!) und dass das Prinzip der gerechten Ressourcen-Verteilung immer an der Egomanie, Dummheit und Gier der Spezies Mensch scheitern wird. Und wie egoman, dumm, gierig und vor allem kurzsichtig die Menschen sind, sah ich jeden Tag auf meinem Halbtags-Arbeitsplatz. Wenn ich wieder und wieder miterlebte, wie irgendwelche Vollidioten vierhundert Euro in ein Handy und zweitausend Euro in einen riesigen Flachbildschirm investierten, obwohl sie sich damit sehenden Auges in eine Schuldenfalle stürzten, aus der sie sich nie würden befreien können, zweifelte ich immer mehr daran, dass man mit diesen Menschen eine bessere Welt aufbauen könnte. Wenn man täglich mit einer nicht enden wollenden Abfolge von Gier und Dreistigkeit, Dummheit, Impertinenz und Skrupellosigkeit konfrontiert wird, ist das der Romantik und dem humanistischen Gedanken sehr
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