Königskinder
lächelte nun auch meine Mutter an. »Danke.«
Mama verschwand hinter einen Vorhang in unsere Kochnische, um einen Tee aufzubrühen, nicht ohne mir aber ein für sie untypisches »Und du konzentrierst dich jetzt auf deine Hausaufgaben« zuzuwerfen. Ich dachte natürlich nicht im Traum daran, sondern schaute den Mann eine Weile neugierig an und beschloss dann, dass er mir ruhig helfen könne. »Wenn man neun Luftballons hat, aber nur fünf haben will, wie viel muss man dann verkaufen?«, fragte ich ihn.
»Vier«, sagte der Mann und blickte über meine Schulter in mein Schulheft. »Aber ich schlage vor, du verkaufst die Ballons nicht, sondern verschenkst sie. Das ist netter.«
Ich kicherte. »Das ist eine Rechenaufgabe, du Dummi«, sagte ich. »Ich hab doch gar keine richtigen Ballons.«
»Keine Ballons? Ein kleines, hübsches Mädchen wie du und keine Ballons? Was für eine Schande!« Und dann drehte der Mann sich plötzlich um, ging zur Tür und verließ ohne ein weiteres Wort den Laden. Es machte wieder Bimmelim , und meine Mutter, die daraufhin sofort hinter dem Vorhang hervorgeschossen kam, sah nur noch durch die Scheibe, wie der Mann auf ein Motorrad stieg und davonfuhr.
»Hat er irgendetwas gesagt?«, fragte sie tonlos.
»Dass es eine Schande ist«, wiederholte ich wahrheitsgemäß die letzten Worte, die der merkwürdige Fremde gesagt hatte. »Der war echt voll groß, oder?«
Meine Mutter antwortete nicht.
Am nächsten Tag, als ich von der Schule kam und gerade mein Fahrrad vor der Traumwolke abschloss, sah ich den Mann wieder. Er stand auf der anderen Straßenseite in einem Hauseingang und hielt drei bunte Luftballons in der einen Hand. Mit der anderen winkte er mir zu. Ich winkte strahlend zurück und lief zu ihm hinüber.
*
In der Mößbauer-Schule war alles anders. Ich fand zwar auch hier keinen Freundeskreis, wie ihn sich meine Eltern für mich wünschten, aber dafür war ich nicht mehr der Einzige, der für sich allein am besten funktionierte. Manchmal kam es mir so vor, als wären wir Schüler dort alle unsichtbare, aufziehbare Blechmännchen, die unermüdlich über den Schulhof und durch die Flure stiefelten, gelegentlich zwar mal zusammenstießen, aber nicht weiter Notiz voneinander nahmen. Manche meiner Mitschüler waren so vollständig in ihre merkwürdig verkopfte Welt eingetaucht, dass ich mir dagegen fast wie ein cooler Typ vorkam. Andere waren dagegen hyperaktiv und manisch quasselig und benahmen sich wie kleine Vollidioten. Das lag daran, dass sie vor lauter Hirnfunktion unter mentalem Starkstrom standen. Und wieder andere – und dazu zählte ich mich – waren eigentlich gar nichts Besonderes. Ich habe mich nie als übermäßig klug empfunden. Ich besitze bloß die zufällige Gabe, Dinge sehr schnell zu kapieren. Man erklärt mir etwas, ich merke es mir und weiß es dann zumeist im richtigen Moment anzuwenden. Aber ich habe nie gern geforscht oder weiter gedacht, als vorgegeben. Ich bin kein Tüftler. Ich bin bloß ein Wissens-Zweitverwerter. Doch ob introvertiertes, extrovertiertes oder bloß Pseudo-Genie: Fast alle von uns waren Außenseiter gewesen, bevor wir an diese Schule kamen. Weil wir einfach anders tickten als die anderen. Und Außenseiter zu sein, ist eine Rolle, die man nur schwer wieder ablegen kann.
*
Heute, als Erwachsene, kann ich es nicht fassen, dass ich einfach so zu dem fremden Mann mit den Ballons hingegangen bin. Ich will nicht ausschließen, dass mich meine Mutter vor Kinderschändern ( Mitschnacker nannte man die bei uns im Norden) gewarnt hatte. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Gut möglich, dass meine Mutter ihr eigenes Konzept des blinden und unbedingten Vertrauens auch auf mich übertragen hat. Meine Mutter war fest entschlossen, an das Gute im Menschen zu glauben. Skepsis und Pessimismus sorgten für ein schlechtes Karma. Als ich älter wurde, begriff ich, dass meine Mutter die meiste Zeit nur übers Ohr gehauen, ausgenutzt und respektlos behandelt wurde. Damals aber, als Achtjährige, war ich wie sie: völlig arglos, voller Neugier und Hoffnung. Da war ein Mann mit Ballons. Ein Mann, der mir am Tag zuvor sogar bei meinen Rechenaufgaben geholfen hatte. Er winkte mir freundlich zu. Also ging ich hin.
»Hallo. Sind die für mich?«, fragte ich und grabschte sofort nach den Ballons.
Der Mann reichte mir lächelnd die drei Fäden, an denen die Ballons festgebunden waren, und sagte: »Erstaunlich, wie schön ein bisschen Luft sein kann,
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