Königskinder
oder?«
»Häh?«, antwortete ich, weil ich keine Ahnung hatte, was er meinte. Ich strahlte die drei bunten, aufgepumpten Dinger an, die über meinen Kopf schwebten.
»Luftballons sind eigentlich hässliche, schrumpelige, kleine Dinger. Sie werden erst zu etwas Prächtigem, wenn man sie mit Luft füllt. So kann Luft, die normalerweise unsichtbar ist und uns eigentlich überhaupt nicht interessiert, plötzlich etwas sehr Schönes sein«, erklärte der Mann.
Ich zuckte bloß mit den Schultern. Das war typisches Erwachsenengefasel. Für mich zählte nur eins: Die Dinger waren schön, also wollte ich sie haben!
Der Mann nahm mir die Luftballons wieder weg, was so schnell ging, dass ich es nicht verhindern konnte. Beleidigt schaute ich ihn an.
»Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen!«, maulte ich.
»Du bekommst die Ballons gleich wieder«, beruhigte er mich. »Ich will dir bloß etwas zeigen.«
Er band die Fäden der Ballons an den Laternenpfahl neben uns, und holte dann einen schlaffen roten Luftballon aus seiner Tasche. Er blies ihn auf und klemmte die Öffnung des Ballons mit dem Finger ab, so dass keine Luft entweichen konnte. »Klatsch mal in die Hände.«
Ich schlug einmal widerwillig meine Hände zusammen.
»Nein, öfter!«, sagte der Mann.
Ich applaudierte ein bisschen, lustlos und frei von einem erkennbaren Rhythmus. »Bekomme ich jetzt die Ballons zurück?«
»Kannst du einen Viervierteltakt?«, fragte er.
»Häh?«
Der Mann begann mit seinem rechten Fuß gleichmäßig aufzustampfen. »Klatsch mit!«, sagte er, und ich schlug nach kurzem Zögern die Hände im selben Rhythmus zusammen, den er stampfte. He, das machte ja Spaß! Ich kicherte und klatschte immer lauter und energischer. Und dann fing der Mann an, die Finger am Ballon so leicht zu lösen, dass ein winziger Pfeifton entwich. Und noch einer. Genau im Takt unseres Stampfens und Klatschens. Ich lachte begeistert. Dann nahm er beide Hände, zog am Ballon, presste ihn, ließ ihn locker und kniff die Öffnung wieder zu, immer abwechselnd, ganz schnell, und es klang wie ein ganzes Pfeif- und Quietschorchester, das elegant und pfiffig und witzig Musik zu unserem Stampf- und Klatschrhythmus machte. Ich juchzte und schlug die Hände selbst dann immer noch weiter zusammen, als die Luft aus dem Ballon schon vollständig entwichen war.
»Noch mal!«, rief ich.
»Ein anderes Mal«, lächelte der Mann.
»Das war dufte!«
»Du bist ein richtig musikalisches Mädchen«, sagte er, band die Ballons vom Laternenmast und reichte sie mir. »Ich heiße übrigens Karl. Aber meine Freunde nennen mich Alabama.«
»Wieso denn das?«, fragte ich.
»Weil das ein Teil eines Songtitels ist, den ich sehr mag«, erklärte Alabama Karl.
»Ich heiße Simone«, sagte ich. »Und manchmal Saraswati.«
»Die indische Göttin der Weisheit«, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu mir.
»Du weißt aber eine Menge«, staunte ich.
Alabama lächelte.
»Bis bald, Simone«, sagte er, tätschelte meinen Kopf und ging dann die Straße hinunter. »Wir sehen uns wieder.«
Ich stand da, mit meinen drei bunten Ballons, und schaute ihm hinterher.
Kapitel 5
1978
I ch hatte in meinen ersten beiden Schuljahren an der Rudolf-Mößbauer-Schule immerhin einen Freund. Er hieß Udo und hatte einen Seitenscheitel, den seine Mutter ihm offenbar jeden Morgen mit einem Lineal zog, so gerade und präzise war er. Wenn man es genau nimmt: Freund ist ein großes Wort. Erwachsene würden sagen, Udo und ich waren gute Bekannte.
Udo gehörte in die erste Kategorie der Mößbauer-Schüler: zu denen, die in ihrer eigenen Welt lebten. Udo war ein Science-Fiction-Freak. Er liebte Astronomie, Raumfahrt, Zukunftsvisionen und technische Gimmicks aller Art. Er konnte stundenlang über Beteigeuze reden und Monologe darüber halten, ob die Apollo-Mondlandung 1969 ein Riesenschwindel war. »War sie vermutlich nicht«, dozierte Udo bei unserem ersten Zusammentreffen unaufgefordert, »aber die Tatsache, dass die amerikanische Flagge, die Armstrong auf dem Mond aufgestellt hat, auf den Fotos im Wind flattert, obwohl es auf dem Mond doch gar keinen Wind gibt, das ist schon merkwürdig.«
Ich fand diese Themen weder besonders interessant, noch waren sie mir vollständig gleichgültig. Es waren einfach Themen. Ich tat, was ich immer tat: Ich hörte zu und speicherte ab. Udo und ich spielten oft mit seinen Modellbausätzen und schauten manchmal bei ihm zu Hause seine Lieblingsfernsehserie:
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