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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Raumschiff Enterprise. Es war eine sehr pragmatische Konstellation mit Udo und mir. Völlig okay, aber mehr auch nicht.
    Ich weiß, dass das alles klingt, als wäre ich eine Art Autist. Und vielleicht habe ich mich die ersten acht Jahre meines Lebens auch ein bisschen so benommen. Große Emotionen und jedwede Form von Spontaneität waren etwas, was mir lange vorenthalten wurde. Ich kann mich in den ersten acht Jahren meiner Existenz an keinen übermäßigen Gefühlsausbruch erinnern, weder im positiven noch im negativen Sinne. Meine Eltern waren sehr nett und fürsorglich, aber sie haben mich nie überrascht. Nicht ein einziges Mal. Meine Lehrer waren korrekt und engagiert, aber mehr auch nicht. Richtige Freunde hatte ich nicht, und meine Katze ließ sich nicht gern streicheln, weder von mir, noch von jemand anderem. Sie war am Ende nierenkrank und lag manchmal wimmernd in einer Ecke herum. Doch selbst dann wollte sie noch in Ruhe gelassen werden. Sie wollte lieber alleine leiden, als von mir getröstet zu werden. Meine Eltern wollten sie einschläfern lassen und mir eine neue Katze kaufen, aber ich habe mich nicht dazu durchringen können, dem zuzustimmen. Mein Vater erklärte mir, dass es aussichtslos war zu hoffen, dass es ihr jemals wieder bessergehen würde. Aber auch wenn ich akzeptierte, dass dies eine unumstößliche Tatsache war, klammerte sich ein winziger Teil von mir an der Hoffnung fest, dass man dies trotzdem nicht als feste Größe akzeptieren musste. Irgendwann ist sie weggelaufen, meine Katze. Oder, wie ich Jahre später anfing zu vermuten: Meine Eltern ließen sie einschläfern, ohne mir die Wahrheit zu sagen. Wie auch immer es war: Ich habe sie nie wiedergesehen.
    So war das bei mir. Ich lebte bequem und behütet, aber in einer einlullenden Gleichmäßigkeit, ohne jedes unerwartete Moment und irgendwelche Grenzübertritte.
    Doch dann kam Hassan!
     
    Es war Tag der offenen Tür in unserer Schule. Ich saß an einem Tisch in der Bibliothek. Vor mir stand ein Schachbrett, hinter mir hing ein handgemaltes Plakat: SCHACH AG – Das Spiel der Könige. Ich hatte in den letzten Stunden bereits einigen Eltern, die mit dem Gedanken spielten, ihren Nachwuchs in unser Heer der unsichtbaren Außenseiter einzureihen, brav auf die Frage geantwortet, was wir in der Schach AG so machten: Wir spielten Schach. Was sonst? Der Schulmeister war elf Jahre alt; er spielte besser als alle Schüler der Oberstufe.
    Es war gerade Mittagszeit, und die meisten Besucher hielten sich in der Kantine auf. Ich langweilte mich ein wenig. Da kam plötzlich ein dunkelhaariger Junge hereingeschlendert, der Schlaghosen und ein viel zu buntes Hemd trug. Er kam auf meinen Tisch zu, nahm blitzschnell einen schwarzen Läufer vom Schachbrett, ließ ihn im Zickzack über mehrere Figuren springen, bis er die letzte Reihe erreichte, kickte einen meiner Türme um, riss die Arme hoch und schrie: »Toooor!«
    Ich schaute ihn verwirrt an.
    »Warum ist das das Spiel der Könige?«, fragte der Junge dann und zeigte dabei auf das Plakat hinter mir.
    »Das Spiel kommt aus Persien«, begann ich meinen gespeicherten Vortrag abzuspulen.
    »Ich kenne einen Laden hier in Hamburg, wo man das auch kaufen kann«, sagte der Junge. »Das hättet ihr gar nicht ganz aus Persien besorgen müssen.«
    »Ich meine, das Spiel wurde in Persien erfunden. Und Schach kommt von Schah. So hießen die Könige von Persien«, erklärte ich.
    »Aha«, sagte der Junge. »Na dann …«
    »Der Sinn des Spiels ist es, den König zu beschützen«, ergänzte ich.
    »Kann der nicht selbst auf sich aufpassen?«, fragte der Junge.
    »Der König ist total hilflos. Er braucht seine Bauern und seine Soldaten, um sich hinter ihnen zu verstecken«, antwortete ich.
    »Meine Eltern waren auch Bauern. In Anatolien. Das ist gar nicht weit von Persien«, sagte der Junge. »Die hätten so ’nem blöden König aber die Zunge rausgestreckt, wenn der sich hinter ihnen versteckt hätte.« Er schnipste eine weitere Figur quer über das Schachbrett. Wahrscheinlich dachte er, es wäre der König. Aber es war die Dame.
    »Wo sind deine Eltern jetzt?«, fragte ich.
    »Zu Hause«, sagte der Junge, »in der Barnerstraße.«
    Er ging nun zu den Bücherregalen hinüber und musterte einige der Titel auf den Buchrücken. »Pippi Langstrumpf?«, wunderte er sich. »Ich dachte, ihr seid hier alle so klug. Und dann lest ihr so ein Babybuch wie Pippi Langstrumpf?«
    »Das ist ein tolles Buch«, sagte ich

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