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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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hätte intellektuell wahrscheinlich keine zwei Tage auf der Rudolf-Mößbauer-Schule überlebt, aber er war auf eine Art klug, die mir bis dato fremd war. Streetsmart sagt man heute dazu. Hassan wusste selten, wie Dinge zusammenhingen, wie sie entstanden und was sie bedeuteten, aber er wusste meistens, was zu tun war, wenn ein Problem sich abzeichnete. Und: Hassan zögerte nie. Wenn er etwas tun wollte, dann tat er es. Hassan sprudelte über vor plötzlichen Eingebungen und Ideen. Einige dieser Einfälle gingen allerdings auch nach hinten los. Und im Mai 1980 hatte er eine Idee, die mich sogar fast das Leben gekostet hätte.
    *
    Okay, mein Lieber. Diesem Kapitel gebe ich einen Titel. Hier ist er: Saraswati erlebt ein Abenteuer und erfährt ein Geheimnis. Oder: Die Demo, die mein Leben veränderte.
    Ich hatte Ferien. Meine Mutter war schon seit einer Woche in Gorleben. Eine stetig wachsende Gruppe von Menschen hatte dort ein Protest-Camp aufgeschlagen; sie wollten das geplante und offenbar hochgefährliche Endlager für Brennstäbe verhindern. Meine Mutter war natürlich auch gegen das Endlager, doch das war nicht ihre Hauptmotivation, sich dort aufzuhalten: Sie hatte ihren alten VW-Bus randvoll mit Teetüten und Tüchern, mit Duftölen und Räucherstäbchen vollgeladen, die sie den Protestlern vor Ort verkaufen wollte. Meine Mutter rechnete sich dort ein besseres Geschäft aus, als wenn sie den Laden geöffnet ließe. Und ganz abgesehen davon liebte sie es, mit einem Haufen gleichgesinnter Menschen zusammen zu sein. »Saraswati, du kannst dir nicht vorstellen, was für positive Schwingungen es hier gibt«, erklärte sie mir eines Abends am Telefon. Ich durfte bei Alabama Karl in seiner WG wohnen. Karl war kein Protest-Typ. Er war Musiker. Er hatte genug positive Schwingungen, wenn der Gitarrist und der Bassist seiner Band ihre Seiten anschlugen. Karl teilte sich eine schöne – und unfassbar unaufgeräumte – Drei-Zimmer-Wohnung in der Ottensener Barnerstraße mit zwei anderen Männern. Der eine hieß Lulle, studierte Politikwissenschaften und trug ein Stirnband. Der andere war sehr dick und hieß Jeremias. Er war Koch in einer Kantine; ich glaube nicht, dass er ein Experte für kalorienarme Ernährung war. Dafür kannte er sich mit einem anderen Thema bestens aus und erzählte jedem, der es nicht hören wollte, dass eine riesige, weltweite Verschwörung im Gange sei. Es hatte irgendetwas mit der Zahl 23 zu tun und mit der Pyramide und dem Auge, die auf amerikanischen Dollar-Scheinen zu sehen waren. So ganz kapiert habe ich es nie.
    Abends saßen Karl, Lulle, Jeremias und ein paar andere Typen, die zufällig gerade da waren (in Alabamas WG ging es zu wie auf dem Hauptbahnhof), zusammen auf dem Wohnzimmerfußboden, der mit Kissen und Gerümpel übersät war, und spielten Scrabble. Einmal gewann Lulle, weil er im letzten Moment noch das Wort Molotow legte und dabei ein Dreifacher-Wortwert-Feld nutzte.
    »Was ist ein Molotow?«, fragte ich neugierig.
    »Das ist eine …«, setzte Lulle an, doch dann stieß ihm Jeremias energisch in die Seite und vollendete den Satz: »… eine Prinzessin aus einem fernen Land.«
    »So etwas wie ein Maharadscha?«, wollte ich wissen.
    »Nee, ein Maharadscha ist ja ein Mann«, erklärte Jeremias.
    »Also eine Maharedschesse?«, schlug ich vor.
    Lulle lachte laut auf. »Molotow, die Maharedschesse aus Anarchistan. Genau!«, prustete er.
    Alle lachten. Und ich lachte mit. Sie waren lustig, Karl und seine Freunde.
    Nachts schlief ich auf den Kissen, auf denen wir vorher alle gesessen hatten. Manchmal schlief ich dort schon, während die anderen noch dort saßen, rauchten, redeten und tranken. Einmal wachte ich im Arm einer total betrunkenen Frau auf, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie tätschelte mir den Kopf und sagte, sie hätte auch so gern Kinder. Sie hatte Tränen in den Augen und roch eklig.
    Es war echt eine seltsame Zeit damals.

    An einem Samstag weckte ich Karl, der in seinem Zimmer auf einem Hochbett schlief. Ich rüttelte ihn kräftig, und als er sich murrend bewegte, sagte ich: »Ich will heute etwas unternehmen!«
    »Wir gehen nachher zum Wochenmarkt«, brummte Karl und wollte sich umdrehen und weiterschlafen. Ich kniff ihm jedoch so kräftig in den Zeh, dass er mit einem Schrei hochfuhr. »Okay«, lachte er, als er splitternackt aus dem Bett kletterte, »dann gehen wir eben gleich zum Wochenmarkt.«
    Erst jetzt sah ich, dass da noch jemand in Karls Bett lag. Ein

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