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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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nackter, zierlicher Frauenpopo ragte ein Stück unter der Decke hervor.
    »Wer ist das?«, fragte ich und zeigte auf das Hinterteil.
    Karl, der seine Lederhose und ein Hemd anzog, sagte: »Das ist nur eine Freundin.«
    »Kommt die jetzt öfter?«
    Karl senkte die Stimme. »Nein, Simone, kommt sie nicht. Wollen wir auf dem Markt frühstücken?«
    Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Es ist gleich zwei Uhr nachmittags«, sagte ich. »Ich habe vorhin mit Jeremias gefrühstückt. Wie heißt denn deine Freundin?«
    »Dann essen wir eben zu Mittag«, ignorierte Karl meine Frage, zog sich seine Schuhe an und schob mich dann in den Flur, wo ich meine Stiefeletten anzog.
    »Müssen wir deiner Freundin nicht Bescheid sagen, dass wir jetzt gehen?«, fragte ich.
    »Die haben sicher halbe Hähnchen auf dem Markt«, sagte Karl, »die magst du doch so gerne.«
    »Jaaaaaaaaa!«
    Er öffnete die Tür und ging mit mir hinaus. Es war ein schöner, milder Tag. Karl blinzelte in die Sonne, während wir losgingen, und streckte sich. Von irgendwoher hörten wir Musik aus einem Lautsprecher. »Was wollen wir trinken, sieben Tage lang«, sang jemand. Wir hörten auch eine Polizeisirene und Sprechchöre. Ich konnte nicht verstehen, was sie riefen, und es war mir auch egal.
    »Ist Mama auch nur eine deiner Freundinnen?«, fragte ich Karl.
    Karl zögerte. »Nein«, sagte er dann, »deine Mutter ist etwas Besonderes.«
    »Hast du sie lieb?«, wollte ich wissen.
    »Ja«, sagte Karl.
    »So richtig doll?«, bohrte ich weiter.
    Bevor Karl antworten konnte, brach ein riesiges Chaos aus. Ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung, kam eine tobende Masse von Leuten um die Ecke in die Barnerstraße gerannt. Sie rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Es gab lautes Geschrei und Gebrüll, Frauen kreischten, ein Mann, dessen Gesicht hinter einem Palästinensertuch verborgen war, brüllte laut »Systemschweine!«, was ein seltsames Wort war. Und immer noch ist.
    »Scheiße!« Karl riss mich reaktionsschnell zur Seite, presste mich gegen die Hauswand und stellte sich dann schützend vor mich. Mein Gesicht war in seinen Bauch vergraben, und ich umklammerte ihn ängstlich, als die Geräusche immer lauter wurden. Es war ein riesiger, lärmender Tumult. Und ich sah nichts. Absolut nichts.
    Bis die Sache mit dem Jungen passierte.
    *
    Meine Eltern hatten mich vormittags bei Hassan abgeliefert. Ich sollte dort nicht nur den Tag verbringen, sondern durfte zum ersten Mal auch bei den Özdamars übernachten. Sie hatten sich lange geziert, meine Eltern, bevor sie diesen Schlafbesuch gestatteten. Doch irgendwann gingen ihnen die Ausreden aus. Das schlechte Gewissen meiner Mutter über ihr gönnerhaft-großkotziges Verhalten nagte noch an ihr, und obendrein hatte ich meinen Eltern noch unterstellt: »Ihr wollt mich da nur nicht schlafen lassen, weil es Türken sind.« Diesen bösen Vorwurf des Rassismus konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Zähneknirschend packten sie mir also eine Tasche mit Schlafanzug, Handtuch und Kulturbeutel und lieferten mich mit einem nicht sehr glaubwürdigen »Wir wünschen dir viel Spaß!« bei Hassan ab.
    Es war zehn Uhr morgens und in der Wohnung der Özdamars herrschte der gewohnte Trubel. Wir spielten im Zimmer, das Hassan sich mit seinem Bruder teilte, ein wenig Lego. Und dann geschah, was nicht hätte geschehen dürfen: Wie durch ein Wunder leerte sich die Wohnung! Hassans Vater, der als Elektriker arbeitete, wurde zu einem Notfall gerufen, Hassans Mutter ging mit einer Cousine ein Kleid für irgendeine Hochzeit aussuchen, und auch Hassans Geschwister verschwanden allesamt irgendwo anders hin. Wir waren tatsächlich, was noch nie zuvor vorgekommen war, allein in der Wohnung!
    »Nicht wahr, oder?«, staunte ich, als ich im unfassbar unbelebten Flur stand.
    »Hey, cool!«, grinste Hassan. »Los!«
    Es war logisch, was wir taten: Wir holten uns Cola aus dem Kühlschrank, Schokolade aus dem Regal und schalteten den Fernseher ein. In der Glotze lief ein alter Schwarzweißfilm, der die meiste Zeit in einem Gefängnis spielte. In einer Szene banden ein paar Häftlinge, die ausbrechen wollten, ihre Bettlaken zusammen und kletterten aus dem Fenster.
    »Das merk ich mir«, sagte Hassan, »wenn ich das nächste Mal Stubenarrest bekomme.«
    »Das geht doch gar nicht«, gab ich zu bedenken. »Die Konsistenz von Bettlaken …« Ich war zehn Jahre alt und sagte manchmal solche Worte wie Konsistenz . Ohne Grund war ich schließlich

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