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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Diplomphysiker oder Gefahrenstatistiker sein um zu wissen, dass Tempo bei diesem Unterfangen ein zweischneidiges Schwert war. Einerseits wäre es hilfreich, schnell zu sein, weil die Belastung auf das Laken-Seil sich dann stetig neu verteilen und die Gefahr des Reißens kleiner sein würde. Außerdem hätte ich den Scheiß dann auch schneller hinter mir. Andererseits stieg proportional zum Tempo meines Abstiegs auch die Gefahr einer unkonzentrierten Nachlässigkeit, die einen schweren Sturz zur Folge haben könnte. Ich entschied mich für einen vernünftigen Mittelweg – die Geschichte meines Lebens …
    Zügig, aber nicht eilig, bewegte ich mich am Laken abwärts, während Hassan aus dem Fenster staunend zu mir herunterschaute und zugab: »Donnerwetter! Das hätte ich mich nie getraut!«
    Ich war gerade knapp unterhalb des dritten Stockwerks angekommen, als das Chaos ausbrach! Eine Gruppe von Menschen in Lederjacken, mit Palästinensertüchern und Motorradhelmen kam wie irre um die Ecke in die Barnerstraße gerannt. Demonstranten. Sie schrien aufgeregt, brüllten und kreischten. Und dann sah ich, direkt hinter den fliehenden Protestlern, eine Horde Polizisten angelaufen kommen. Irgendwo bellte ein Hund wie verrückt, eine Sirene schrillte los. Ein unglaublich großer, dünner Mann mit einem Lederhut presste sich auf der anderen Straßenseite gegen die Hauswand, um nicht zertrampelt zu werden. Ich erstarrte in meiner Kletterbewegung und sah mich ängstlich um. Ich wollte nicht in diesen Hexenkessel hinuntersteigen! Jetzt sah ich, dass auch von der anderen Seite der Barnerstraße Polizisten anrückten. Sie umzingelten die Demonstranten … und würden sie direkt unter mir zusammentreiben! »Komm wieder hoch!«, rief Hassan und streckte seine Hand aus, die allerdings viel zu weit von mir entfernt war, als dass ich sie hätte greifen können. »Komm schon! Losmachkeinenscheiß! «
    Ich zögerte. Sollte ich den restlichen Abstieg bewältigen und mich dann sofort wieder in Hassans Treppenhaus flüchten? Was, wenn das Treppenhaus abgeschlossen war? Oder sollte ich wieder hinaufklettern? Würde ich das überhaupt schaffen? Ich war nicht sehr sportlich, und meine Arme fühlten sich schon jetzt an, als würden sie sich jeden Moment in nutzlose, wabbelige Gummischläuche verwandeln.
    »Mark!«, schrie Hassan aus dem Fenster. Er hatte jetzt richtig Angst. Die ganze Straße unter mir war inzwischen voll mit Leuten, die alle brüllten. Einige Leute sahen mich, zeigten zu mir hoch und riefen etwas, fanden aber in dem ganzen Tumult keine Beachtung.
    Ich wimmerte.
    Und dann traf mich plötzlich etwas am Kopf!
    Einer der Demonstranten hatte wohl eine leere Weinflasche in Richtung der Polizei werfen wollen. Ich befand mich nicht in der geplanten Flugbahn, aber trotzdem traf die Pulle mich am Kopf. Ich schrie auf.
    Und ließ das Laken los.
    Mit einem schrillen Kreischen fiel ich in die Tiefe.
    *
    Alabamas Stimme war laut und eindringlich. »Hör zu, Simone«, sagte er, während er mich immer noch an die Wand gepresst hielt. »Hör genau zu! Ich nehme dich gleich an die Hand, und dann laufen wir gemeinsam schnell, aber nicht panisch zurück zum Haus. Pass auf, dass du nicht stolperst. Schau dich nicht um. Kümmere dich um gar nichts! Lauf einfach nur mit mir mit!«
    Ich zitterte. Was war hier los?
    »Hast du mich verstanden, Simone?«, fragte Karl und seine Stimme klang wie ein Messer, das in mein Ohr schnitt.
    »Ja«, rief ich wimmernd. »Ich will zurück ins Haus!«
    »Ich zähle bis drei«, sagte Alabama, »Dann laufen wir. Eins, zwei … drei!«
    Er nahm meine Hand und begann zu laufen. Ich gab mein Bestes, um mit ihm Schritt zu halten. Es war die Hölle los! Ich konnte kaum etwas erkennen. So viele Leute! So viel Chaos! Und dann sah ich plötzlich etwas fallen, von ganz weit oben. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es sah aus wie … wie ein Junge! Irgendjemand fiel aus einem Fenster! Ich schrie auf. Alabama wollte mich weiterzerren, doch ich hörte auf zu laufen, stolperte und fiel hin. »Halt!«, schrie ich Karl an. »Da ist jemand gefallen. Wir müssen ihm helfen!«
    »Komm mit, Simone!«, schrie Karl und wollte mich wieder aufrichten und weiter mit sich zerren, aber dann rempelte ihn ein anderer Mann, der an uns vorbeipreschte, so heftig an, dass er nach hinten geworfen wurde. In diesem Moment sah ich, dass eine Gruppe Polizisten direkt auf die Stelle zurannte, wo der gefallene Junge lag. Die Polizisten

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