Königskinder
nicht auf der Mößbauer.
»Klar geht das«, sagte Hassan und zeigte auf den Bildschirm. »Das siehst du doch.« Das war Hassan-Logik.
»Das ist ein Filmtrick«, erklärte ich. »Man müsste die Bettlaken richtig flechten, damit sie mehr Stabilität bekommen. Andernfalls würden die Fasern …«
»Weißt du, was das Problem mit euch Mösenkauern ist?«, murrte Hassan und stand auf. »Immer nur reden! Reden, reden, reden.«
Ich war beleidigt. »Du redest viel mehr als ich!«
»Ich tue aber manchmal auch was«, sagte Hassan. »Wenn ich was wissen will, probiere ich es aus!«
»Ich will doch gar nicht wissen, ob Bettlaken halten«, sagte ich. » Du hast damit angefangen.«
Aber Hassan hörte mich schon nicht mehr. Er war bereits ins Schlafzimmer seiner Eltern gestiefelt und holte dort einen Stapel Bettlaken aus dem Schrank. »Wir müssen nur aufpassen, dass sie nicht dreckig werden«, sagte er und drückte mir den Textilberg in die Hand.
»Was soll ich denn damit?«, fragte ich.
»Zusammenknoten«, sagte Hassan. »Du kennst doch bestimmt irgendwelche mittelalterlichen Klugscheißerknoten.«
Ich fand es gemein, dass Hassan ständig darauf anspielte, dass ich eine hochwertigere Schulausbildung als er genoss. Das war doch nicht meine Schuld!
»Okay, ich glaube dir«, versuchte ich einzulenken. »Man kann sich mit Bettlaken aus einem Fenster abseilen. Ist ganz einfach. Gar kein Thema. Können wir jetzt den Film weitergucken?«
Hassan verschränkte die Arme vor der Brust. »Schisser!«, rief er. »Schwuli-Schisser.«
»Kanacke!«, schrie ich. »Doofer Kanacke!«
»Mösenkauender, Schwuli-scheißender … Feiglingshund!« Hassan stockte nur kurz, während er für seine Beleidigung hastig diskriminierende Wortteile aneinanderfügte, die im Ganzen keinen rechten Sinn mehr ergaben. Hatte er eben wirklich impliziert, dass ich Homosexuelle verdauen und ausscheiden würde? Ich musste lachen.
»Was lachste denn so blöd, du … Arsch!«, zischte Hassan.
»Nichts«, grinste ich und begann die Laken zusammenzuknoten. Ich beherrschte tatsächlich mehrere komplexe Knotenkonstrukte. »Alles klar.« Ich hielt ihm ein Ende des Lakenstrangs entgegen.
»Kletterst du jetzt oder nicht?«, bohrte Hassan.
Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte. Ich wusste das sogar sehr genau. »Nur wenn ich dann kein Schisser mehr bin«, sagte ich.
»Nee, dann bist du voll der Held«, grinste Hassan. »Die werden einen Platz nach dir benennen! Oder einen Stern. Oder ein ganzes Universum.«
»Blödmann.«
»Halt die Klappe«, sagte Hassan. Er grinste von einem Ohr zum anderen.
Jungenfreundschaften sind seltsam.
Das Wohnzimmerfenster, das hinaus auf die Barnerstraße führte, hatte leider keine Gitterstäbe, die man auseinanderbiegen und an denen man dann das Laken-Seil hätte befestigen können. Der Fenstergriff, an dem Hassan das Laken binden wollte, sah nicht sehr widerstandsfähig aus. Nach einigem Hin und Her knotete ich das Laken um eines der Standbeine des großen, schweren Wohnzimmerschrankes. Der würde eisern stehen bleiben. Ich stand mit dem großen Laken-Knäuel im Arm am Fenster und schaute hinaus. Es war der vierte Stock. Echt hoch. Irgendwo da draußen war irgendetwas los; ich hörte Musik aus einem blechernen Lautsprecher: »Was wollen wir trinken, sieben Tage lang«, sang jemand. Da waren auch Polizeisirenen und Sprechchöre. Ich versuchte zu verstehen, was sie riefen, doch es gelang mir nicht.
»Na, was ist jetzt. Mein Vater kann jeden Moment zurückkommen«, drängelte Hassan.
Ich hatte eigentlich nicht die geringste Neigung, diese idiotische Mutprobe auszuführen, aber irgendwo im männlichen Gen-Material ist die Eigenschaft verankert, dass wir Kerle jeden Scheiß machen, wenn man uns nur lange genug provoziert.
»Gut«, sagte ich und fragte mich einmal mehr, warum eigentlich ich , der doch die Theorie vertrat, dass die Laken nicht halten würden, den Selbstversuch wagen musste und nicht Hassan. Ich schätze, er war einfach der stärkere Charakter.
Ich warf das rund zwölf Meter lange Laken-Seil aus dem Fenster, seufzte und schaute noch einmal zu Hassan hinüber, in der vagen Hoffnung, dass der mich erlösen und von der Mutproben-Pflicht befreien würde. Den Gefallen tat mein Freund mir aber nicht. Er sagte bloß: »Mach schon!«
Also kletterte ich aus dem Fenster.
Ich presste meine Füße gegen die Außenmauer, während meine nun doch leicht zitternden Hände das Laken umfassten. Man musste kein
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