Königskinder
Nachbarn wohnen.«) in einem Gebüsch gefunden hatte. Meine Mutter protestierte zwar, als ich das arme Tier hochhob und ankündigte, dass es fortan bei uns leben würde, leistete aber keinen echten Widerstand, weil Schnurri ihr mindestens so leidtat wie mir. Die Katze war völlig abgemagert, ihr Fell verfilzt. Meine Mutter hatte dem Tierarzt fast dreihundert Mark für die Diagnose »Nierenschaden« und die entsprechenden Medikamente zahlen müssen. Schnurri war trotzdem kurze Zeit später gestorben. Ich wusste noch genau, wie ich stundenlang in den Armen meiner Mutter geweint hatte. Also hielt ich Mama nun ganz fest. Ihr ganzer Körper zitterte. Ich schlang meine dünnen Arme so weit um sie, wie es ging, und strich ihr sanft über den Rücken.
»Meine Süße«, sagte Mama. »Du bist meine Süße.«
Das war das erste Mal, dass ich begriff, dass meine Mutter kein Fels in der Brandung war. Dass sie zögern, straucheln und versagen konnte. Dass sie ratlos sein konnte. Und dass sie mich mindestens so sehr brauchte wie ich sie. Die Dinge liefen also auch für Erwachsene nicht stets perfekt, wie ich bisher irrtümlich geglaubt hatte.
Ich begriff, dass ich nicht irgendwann ein neuer Mensch werden würde. Ich würde nicht in einigen Jahren mit einem Paukenschlag vom ahnungslosen Kinder-Dasein in ein Stadium überwechseln, in dem ich reif war, alle Zusammenhänge begriff und schaffen konnte, was immer ich wollte. Ich würde tatsächlich immer ich bleiben. Ich war keine kindliche Raupe, die sich irgendwann verpuppt und zum erwachsenen, erhabenen Schmetterling wird. Ich war vermutlich genau wie meine Mutter. Nur eben noch in der Ausbildung.
Kapitel 6
1980
I ch hatte richtig vermutet: Hassan stieß bei meinen Eltern auf wenig Begeisterung. Doch so wie andere Väter und Mütter sich irgendwann wohl oder übel damit abfinden müssen, dass ihr Kind eine Verhaltensstörung hat, sich in der FDP engagiert oder sich den Hell’s Angels anschließt und sich eine nackte Frau, die eine Kettensäge schwingt, auf die Brust tätowieren lässt, so mussten sich auch meine Eltern daran gewöhnen, dass ich dank meines neuen Freundes zusehends so etwas wie typische Jungs-Eigenschaften entwickelte. Ich bin nie ein solcher Meister in der hohen Kunst des Scheißebauens geworden wie er, aber ich war ein mehr als williger Schüler. Nein, meine Eltern waren wirklich keine Fans von Hassan. Aber sie waren doch irgendwie glücklich, dass ich nicht mehr allein war.
Hassan lebte mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern in einer verwinkelten Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Herzen von Ottensen, dem charmantesten Teil Altonas, nur wenige Straßen von unseren Schulen entfernt. Ich war liebend gerne bei dieser Großfamilie zu Hause. Zwei- oder dreimal pro Woche ging ich nach der Schule dorthin und aß bei den Özdamars zu Mittag. Es war ein Riesentrubel: Zwischen acht und zwölf Leute – je nachdem, welche Verwandten und Bekannten von Hassans Familie gerade in der Nähe waren – versammelten sich im Wohnzimmer um einen großen Tisch, der unter etlichen randvoll gefüllten und beladenen Schüsseln, Platten und Töpfen ächzte. Alle aßen und redeten durcheinander. Ein herrliches Gewusel, bei dem viel gelacht, auch mal leidenschaftlich gestritten und (besonders von Hassan und seiner kleinen Schwester Nilgün) pro Mahlzeit mehr gekleckert wurde, als bei uns zu Hause in einem ganzen Jahr.
Meine Mutter holte mich an diesen Tagen immer spätnachmittags von Hassan ab. Lange weigerte sie sich standhaft, die Einladung von Hassans Familie anzunehmen, doch einzutreten und einen Tee mit ihnen zu trinken. Eines Tages wollte meine Mama Hassans Mutter allen Ernstes hundert Mark geben, um sie für all die Lebensmittel, die sie wegen mir zusätzlich kaufen musste, zu entschädigen. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so gekränkt und beleidigt war wie Nurhan Özdamar, als Mama ihr den blauen Schein in die Kitteltasche zu stecken versuchte. Als Mama merkte, dass sie sich total danebenbenommen hatte, entschuldigte sie sich tausendfach. Doch sie durfte erst mit einer Absolution das Haus verlassen, nachdem sie drei Tassen Tee getrunken, zwei Stück Baklava gegessen und Hassans komplette Verwandtschaft kennengelernt hatte. Inklusive dem Onkel und dessen drei Kindern, die zwei Stockwerke unter den Özdamars in der zweiten Etage wohnten. Seitdem trank sie öfter mal mit Hassans Mutter eine Tasse Tee, bevor sie mit mir nach Hause fuhr.
Hassan war clever. Er
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