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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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ihren Zimmern hängen, verabredeten sich, um Zurück in die Zukunft im Kino zu sehen, und kicherten mit vielen »Iiihs« und »Bäähs« über Dr. Sommers Sex-Beiträge in der Bravo . Ich dagegen war traurig, dass die Gorillas vom Aussterben bedroht waren, half meiner Mutter im Teeladen und fragte mich, warum Rille und Flesh sich eigentlich nie eifersüchtig darüber stritten, dass ich mit beiden schlief. Wenn ich eine beste Freundin gehabt hätte, dann wäre ich voll sauer auf sie gewesen, wenn sie mit meinem Ex herummachen würde. Aber ich hatte keine beste Freundin. Keine richtige jedenfalls. Außerhalb meiner Schule scharte ich natürlich nach wie vor Menschen um mich: minderjähriges Kneipenvolk, Jungmusiker, Junior-Punks. Ich sammelte Menschen, wie ich es schon als kleines Kind getan hatte. Aber anstatt sie dann zu hegen und zu pflegen, ließ ich sie einfach nur um mich herumschwirren, ohne ihnen jemals richtig nahezukommen. Ich war allein in einem Pulk von Menschen. Ich knüpfte keinen wirklich engen Kontakt, weil auch niemand mir genug Signale sendete, dass er solch einen engen Kontakt mit mir wirklich wollte. Die Jungs schon gar nicht. Die kamen mir prinzipiell nur physisch nahe, nicht menschlich.
    Ja, ich war eindeutig frühreif. Verdammt frühreif. Und gleichzeitig war ich so naiv, dass es weh tut, heute darüber nachzudenken. Ich war so demonstrativ anders und so stur, dass keiner sich nah an mich herantraute. Außer die lüsternen Jungs natürlich, meine Placebos für echte Sympathie. Bis zu jenem Tag auf Sylt, als ich mich, wie gesagt, das erste Mal wirklich verliebte.
    Ich erwähnte es ja bereits: Mein Timing ist eine Katastrophe. Ich verliebte mich nämlich erst am letzten Abend der Reise. Sechs Tage lang hatte ich größtenteils schweigend, lesend oder grübelnd in meiner Außenseiterrolle verbracht, war bei Ausflügen hinter den kleinen, langweiligen Spießern aus meiner Klasse hergetrottet und hatte sie beobachtet, wie ein Forscher Ameisen studiert. Ich fand das gar nicht schlimm, denn ich wollte nicht zu ihnen gehören. Ich wollte nicht Bestandteil einer genormten Masse sein.
    Als am letzten Abend ein Fest veranstaltet wurde, bei dem alle vier in Puan Klent übernachtenden Schulklassen das Ende ihrer Reise begingen, hatte ich gezögert, ob ich überhaupt dort hingehen sollte. Aber die Alternative hätte darin bestanden, allein auf dem Bett unseres Sechsbettzimmers zu liegen und zum dritten Mal das abgegrabbelte Taschenbuch Der Tod des Märchenprinzen zu lesen, das ich meiner Mutter gemopst hatte. Ich ging also doch. Allerdings war ich kurz davor, gleich wieder umzudrehen, als ich auf die große Turnhalle zuschlenderte, aus der laut das unsagbar blöde und monotone Lied »Live is Life!« von Opus dröhnte. Solche Kindermusik war mir zuwider; ich liebte damals The Cure und Klaus Nomi. Doch ich zwang mich darüberzustehen.
    Mit einem leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen stand ich am Rand der Tanzfläche, schaute den hopsenden Madonna-Doubles und den Möchtegern-coolen Typen zu, trank eine Cola und zuckte überrascht zusammen, als plötzlich jemand eine Hand auf meine Schulter legte.
    »Tanzt du?«, fragte ein Junge.
    »Nein«, sagte ich. »Ich stehe.«
    Zickig, ich weiß. So funktioniert aber nun mal mein Abwehrmechanismus. Ein Junge, der jetzt schon aufgab, konnte mich mal kreuzweise. Erst nach meiner patzigen Antwort schaute ich mir den Typen, der mich zum Tanzen aufgefordert hatte, tatsächlich an. Ich erkannte ihn wieder; vor zwei Tagen hatte ich mitbekommen, wie er irgendeinen Idioten aus einer anderen Gruppe, der wohl eine abfällige Bemerkung über ein Mädchen aus seiner Klasse gemacht hatte, eine Abreibung verpasste. Aber obwohl ich Gewalt in jeder Form selbstverständlich ablehnte, zählte in diesem Moment nur eins: Er sah ziemlich gut aus – und er hatte sich von meiner Abfuhr nicht einmal ansatzweise aus der Ruhe bringen lassen.
    »Ich steh auch«, sagte er. »Und zwar auf dich.«
    Ich konnte nicht anders. Ich musste lachen. »Du bist ja voll direkt.« Bevor ich es verhindern konnte, rutschte mir noch ein »Find ich gut« hinterher.
    »Und ich mag dein Hundehalsband«, sagte der Junge und zeigte auf das lederne Haustierutensil an meinem Hals.
    »Danke.« Ich zwang mich, nicht zu sehr zu lächeln. Aber ich fand ihn … süß! Ich bekam so selten Komplimente, dass ich selbst die Anerkennung für ein modisches Requisit für eine hinreißende Geste hielt.
    »Ich bin Si–«, begann

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