Königskinder
1984 waren wir dann auf einem zehntägigen Naturkunde-Physik-Abenteuer-Event in Schweden gewesen. Da hatte ich Elche gesehen, gelernt, dass Huskys nicht bellen können, und war bei dem Versuch, aus Pappe ein Boot zu bauen (angeblich geht das) fast ertrunken.
Hassan dagegen, der staatliche Realschüler, war 1983 im Schullandheim in Olpe gewesen. 1984 war die Klassenreise ausgefallen, weil Hassans Lehrerin schwanger war und befürchtete, dass eine Woche mit Hassans Chaotenklasse zu einer Frühgeburt führen würde. Als ich in Barcelona war, befand sich Hassan im Schullandheim von Puan Klent auf Sylt. Das hört sich vermutlich für die meisten Nicht-Norddeutschen wie ein dubioses asiatisches Ausbildungscamp an, ist aber tatsächlich ein ganz harmloses Jugenderholungsheim. Der Name geht angeblich auf eine Art Till Eulenspiegel der Insel zurück. Wie dem auch sei: Hassan und seine Mitschüler verbrachten dort ihre Zeit vorwiegend mit frechen Streichen, wildem Herumgeknutsche und heimlichem Alkoholkonsum.
Komplette Langweiler waren wir aber auch nicht. Auch kluge Kinder pubertieren. Sogar ich! Bei der Barcelona-Reise habe ich nicht nur meine Liebe zur Architektur entdeckt, sondern auch meine Unschuld verloren. Ja, ehrlich: Ich hatte zum ersten Mal Sex. Was ziemlich erstaunlich ist, da ich vorher noch nicht einmal eine Freundin hatte.
Der Name des Mädchens, das aus mir einen Mann machte, war Angela. Sie ging in meine Klasse. Angela war einen halben Kopf größer als ich. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren tatsächlich 1,77 Meter groß. Sie hatte langes, glattes Haar, das schön seidig glänzte, trug eine Brille, die aussah, als hätte sie sie ihrer Oma geklaut, und sie war sehr dünn. Abgesehen von ihrer Größe war Angela ein komplett unauffälliges Mädchen. Klug, wie alle bei uns, und ziemlich ruhig. Das einzig erkennbar Ungewöhnliche an ihr war ihr Musikgeschmack. Sie liebte Volksmusik aus den entlegensten Ecken der Welt: aus Tibet und Thailand, Mali und Peru. Musik aus Tibet, erfuhr ich damals, wird zum Beispiel von Menschen gemacht, die scheinbar unter Schmerzen jammern und winseln, während sie in kaum nachvollziehbaren Rhythmen auf hölzerne Gegenstände einschlagen. Kann man mögen, muss man aber nicht.
Natürlich dachte ich damals an Sex. Ich war fünfzehn, da denken Jungen an wenig andere Dinge. Ich hatte zu Hause in meinem Zimmer ganz hinten im Schrank einen Stapel Penthouse -Hefte versteckt, über denen ich regelmäßig onanierte. Ich bevorzugte Penthouse gegenüber dem erheblich populäreren Playboy ; die nackten Frauen in Penthouse hatten prozentual gesehen nämlich fast fünfzig Prozent größere Brüste als die im Konkurrenzblatt.
Real existierende Mädchen stellte ich mir bei der Selbstbefriedigung selten vor. Das war nämlich kompliziert. Da kam mir mein Sinn für Logik und Realität in die Quere. Stellte ich mir zum Beispiel vor, dass ich mit meiner Klassenkameradin Leonora allein auf einer einsamen Insel strandete, nur wir beide, nackt wie Gott uns schuf (ich hatte gerade mit Hassan Die blaue Lagune auf Video gesehen, was für uns beide eine zutiefst peinliche Erfahrung war), dann sagte Leonora, als ich lüstern auf sie zutrat, zu mir: »Nee danke! So nötig habe ich es wirklich nicht. Ich warte auf einen knackigen Eingeborenen, wenn’s recht ist. Fängst du schon mal an, Holz zu sammeln? Na, was gibt es denn da noch zu gucken – hopp, hopp!« Ich bin einer dieser Jungs, die in ihren eigenen sexuellen Phantasien einen Korb bekommen.
Manchmal ist es nicht leicht, ich zu sein.
Aber ich schweife ab. Also: Wenn ich’s mir hätte aussuchen können, hätte ich meine Unschuld an Leonora verloren. Die war echt hübsch und so etwas wie der Klassenstar. Alle Jungs wollten Leonora, doch die hatte ausschließlich Interesse an älteren Jungs, die zudem nicht auf eine Hochbegabten-Schule gehen durften. Leonora wollte ganze Kerle, nicht kluge Würstchen wie uns.
Angela war nicht wie Leonora. Sie war greifbarer, realer. Wir saßen nebeneinander am Strand. Das Jugendhotel, in dem wir untergebracht waren, hatte eine Grillparty am Meer veranstaltet. Vermutlich hatte Angela es so eingerichtet, dass wir nebeneinander saßen. Frauen können sensationell gut Zufälle inszenieren.
»Das ist schön hier«, sagte Angela und schaute zum Sternenhimmel auf.
»Ja«, antwortete ich. »Am tollsten fand ich die Sagrada Família.«
»Das ist diese verzwurbelte Kirche neben dem Jeansshop, oder?«
Ich seufzte.
»Ich
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