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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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die anzieht, dann sehen die Leute ihre Beine nicht, aber die Beine können rausgucken?«
    »Sagt mal, seid ihr völlig bescheuert?«, mischte sich Ingo ein. »Natürlich sieht man die Beine, wenn eine Frau die Strumpfhose anhat! Man sieht nur nicht mehr die Hautfarbe. Aber die Beine können gucken!«
    »Wie können denn Beine gucken, Ingo?«, erkundigte ich mich, ohne genau zu wissen, ob ich ob dieser idiotischen Diskussion lachen oder weinen sollte.
    »Ich meine: Wenn Beine Augen hätten, dann … also, blickdicht heißt bloß, dass …«
    »Zieht sie doch einfach auf«, schlug Luna vor, »dann siehst du, ob du siehst.«
    »Guter Vorschlag!«, lobte Wolle unsere logische Mitbewohnerin, befreite seine blickdichte Strumpfhose aus der Packung und stülpte sie sich über den Kopf.
    »Ha!«, rief er triumphierend. »Ich sehe euch! Glasklar!«
    Wir mussten lachen, weil Wolle ziemlich beknackt aussah mit seinem plattgedrückten Nylongesicht. Und weil es noch blöder aussah, wie das andere, nicht genutzte Strumpfbein ihm rechts am Kopf herunterbaumelte wie eine Zipfelmütze.
    »Du hättest nur drei Strumpfhosen kaufen brauchen«, sagte ich. »Wir hätten die auseinanderschneiden können. Jeder ein Bein!«
    »Ihr Weiber habt aber auch immer was zu meckern!«, solidarisierte sich Ingo mit Wolle, der immer noch dastand und uns triumphierend zurief: »Ich erkenne jeden einzelnen Pickel in deiner Fresse, Jörn! Von wegen: blickdicht! Ich sehe damit fast besser als ohne Strumpfhose!«
    »Können wir jetzt vielleicht mal los«, maulte ich. »Sonst sterben die Tiere an Altersschwäche, bevor wir sie befreien können.«
    Die anderen nickten und wir verließen unsere Wohnung. »Nimm die Maske ab«, sagte Sanne zu Wolle, als wir das Treppenhaus hinunterstampften. »So kannst du nicht Auto fahren.«
    »Ich sehe alles durch die Strumpfhose! Alles!«, versicherte Wolle und rannte gegen den Kinderwagen, der immer im zweiten Stock vor der rechten Tür stand.

    Der Anfang unserer Aktion verlief reibungslos: Wir fanden die Glossler-Fabrik auf Anhieb. Sie befand sich praktischerweise in einem nachts völlig verwaisten Industriegebiet. Außer uns war da keine Menschenseele. Wir parkten unsere Wagen direkt vor dem Haupteingang des Gebäudes, stiegen aus und stülpten uns unsere Zipfelstrümpfe über. Keiner lachte diesmal, denn jetzt wurde es ernst!
    Wolle und Ingo fanden schnell eine geeignete Scheibe, nicht weit von der Eingangstür entfernt. Dann aber sahen sie sich ratlos an.
    »Und, was ist nun?«, wollte ich wissen.
    »Tja, also …«, begann Wolle.
    »Es ist so …«, versuchte Ingo zerknirscht, das Problem zu erklären.
    Als ich die beiden so dastehen sah, verstand ich, was hier fehlte: Sicher nicht der Wille, das Fenster einzuschlagen – aber dafür etwas, mit dem man es tun konnte. »Nicht euer Ernst, oder?«
    Luna fand neben dem Haupttor in einem kleinen Blumenbeet, das inmitten der industriellen Tristesse irgendwie surreal wirkte, einen großen, runden Stein, den sie Ingo reichte. Wolle und Ingo stritten sich kurz, wer den Stein durch die Scheibe werfen durfte, dann brach Jörn die Diskussion ab, indem er den beiden den Brocken einfach aus der Hand riss und kurz entschlossen losschleuderte.
    In der absoluten Stille des menschenleeren Billbrooks klang das Bersten des Glases wie eine Atombombenexplosion!
    Wir zuckten alle zusammen, als es ohrenbetäubend knallte und klirrte, und Luna schrie sogar kurz erschrocken auf. Dann verharrten wir regungslos und schauten uns nervös um. Doch nichts passierte. Hinter keinem der Fenster ging ein Licht an. Wie auch? Um diese Zeit befand sich hinter keinem der Fenster irgendjemand, der ein Licht hätte einschalten können. Wir atmeten erleichtert aus.
    Jörn kletterte durch das geborstene Fenster ins Innere der Fabrik. Nicht einmal zwei Minuten später öffnete er uns von innen die Tür.

    Sanne war so klug gewesen, an Taschenlampen zu denken, so dass wir nun im Licht von drei Stablampen mittlerer Leuchtintensität durch das Gebäude schlichen. Wir hätten mehr erkennen können, wenn wir nicht unsere blöden Strümpfe aufgehabt hätten.
    Das Gebäude der Firma Glossler war größer, als wir gedacht hatten, und wir waren uns nicht sicher, wo genau wir langgehen sollten. Aufteilen wollten wir uns aber auch nicht. Ich hatte Angst, dass ich mich verlaufen würde, und Luna piepste, dass sie allein »Gruselschiss« hätte. So irrten wir fast zehn Minuten lang die Gänge auf und ab, öffneten alle

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