Königskinder
ziemlich krank. Aber wo genau ist das Problem?« Ich fand ja auch, dass die Gentechnologie, die Anfang der neunziger Jahre erstmals ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung drang, eine gefährliche und gruselige Sache war – ein Weinkrampf deswegen erschien mir dann allerdings doch etwas übertrieben.
»In Australien wachsen jetzt blaue Rosen«, wimmerte meine Mutter, als sei das die alles erklärende Antwort auf meine Frage. »Rosen dürfen nicht blau sein! Es ist gegen die Natur. Das gab es noch nie! Es …«, sie zögerte, »… es macht mir Angst.«
1991 war tatsächlich ein Jahr, in dem man sich über Gebühr Sorgen machen konnte: Der Balkan-Krieg war gerade ausgebrochen, die Sowjetunion zerbröckelte in so viele Einzelteile, dass niemand ahnen konnte, welche Folgen das für die Welt hätte, im Irak brannten Ölfelder und starben Kinder, die Wiedervereinigung lief schon zu Beginn nicht so glatt, wie der dicke Herr Kohl es versprochen hatte, und seit Wochen hörte man, sowie man das Radio einschaltete, immer nur diese unerträgliche und auf Dauer wahrscheinlich hirnschädigende Pathos-Schnulze »Wind of Change« von den Scorpions . Ja, 1991 war ein verdammt schweres Jahr für die Welt. Gentechnisch behandelte Zierpflanzen standen da meiner Meinung nach ziemlich weit unten auf der Sorgenliste.
Mir war aber klar, dass es bei meiner Mutter eigentlich um etwas ganz anderes ging. »Was ist los?«, fragte ich sie also und unterbrach sie sofort, als sie den Mund öffnete und mir zweifelsohne wieder etwas von gentechnisch veränderten Rosen vorjammern wollte: »Was ist wirklich los?«
Meine Mutter schaute mich an, zögerte, zog Rotz hoch und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Dein … dein Vater«, begann sie – und verstummte dann wieder.
»Was?«, rief ich ungeduldig, wie ich nun mal bin, und durchaus auch erschrocken – war Alabama irgendetwas passiert? »Was ist mit ihm?«
»Er will … mich …«, flüsterte meine Mutter, brach wieder in Tränen aus und hauchte zwischen zwei Schluchzern, »… heiraten.«
*
Es passte einfach alles. Sophie und ich hatten nie Streit. Wir bevorzugten dieselbe Art von Urlauben (Städtereisen), wir mochten dieselben Leute, wir gingen gerne ins Kino und mussten uns dabei niemals mühsam auf einen Film einigen. Meistens wählten wir in trauter Eintracht einen Arthouse-Film im Abaton . Am liebsten einen französischen und grundsätzlich immer nur montags, dienstags oder mittwochs. Aus irgendeinem Grund hatten sich diese als unsere Kinotage eingebürgert.
Walter war nicht nur mein zukünftiger Schwiegervater und ein väterlicher Freund, er entwickelte sich auch immer mehr zu meinem Mentor. Ich war innerhalb eines Jahres in seiner Immobilienfirma vom besseren Büroboten bis zu einem seiner Assistenten aufgestiegen. Ich kannte inzwischen die Innenansichten der wichtigsten Deals, bekam Insider-Infos und Background-Fakten, und Walter schätzte meine Meinung, obwohl ich mangels Alter und Lebenserfahrung selten etwas wirklich Kompetentes beizusteuern hatte. Es wurde jedenfalls immer schwieriger, mein Studium durchzuziehen, da mich meine Arbeit im Familienunternehmen immer mehr forderte. Zeitlich und mental.
Mein Vater mochte Sophie. Glaube ich zumindest. Seit dem Tod meiner Mutter hatte er sich eingeigelt, machte nur noch seinen Job und blieb den Rest des Tages zu Hause. Wenn ich ihn zu uns einlud, hatte er oft eine Ausrede, warum er nicht kommen konnte. Und wenn ich ihn besuchte, ließ er mich – egal ob Sophie dabei war oder nicht – nach spätestens zwei Stunden spüren, dass er lieber wieder allein wäre. Walter und dessen Frau Inge hatte er nur einmal kennengelernt, als sie ihn zu einem Gartenfest eingeladen hatten und ich ihn dazu überreden konnte, hinzugehen. Er fühlte sich sichtlich fremd dort, war still und nervös. Er ging, sobald der erste andere Gast zum Aufbruch geblasen hatte. Er war immerhin höflich genug, nicht als Erster zu verschwinden.
Heute weiß ich, dass es eine Depression war, die meinen Vater quälte. Damals konnte ich das, was vor meinen Augen passierte, weder einordnen, noch benennen, und dachte: Das wird schon wieder. Aber während ich dem Verlust meiner Mutter offensiv begegnete, mit Sophie über sie sprach, mich meiner Tränen nicht schämte und so einen gesunden Abschied von ihr nahm, sie als warme, weiche Erinnerung in meinem Gehirn einbettete, nicht als qualvollen Tumor des Verlustes, sprach mein Vater nie über
Weitere Kostenlose Bücher