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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Fragen der Statik), ich konnte gut verhandeln, souverän auftreten und sah bei allem, was ich am Schreibtisch tat, plante und konzipierte immer auch die Zusammenhänge und Konsequenzen. Ich konnte Bebauungspläne lesen wie andere Leute die Bild -Zeitung. In all diesen Dingen war ich viel zu alt für mein Alter. Ich war von einer mitunter erschreckenden professionellen und intellektuellen Reife. Was dagegen zu kurz bei mir gekommen war, war eine gewisse Unbeschwertheit, ein »Heute denke ich nicht nach, heute will ich einfach nur meinen Spaß haben«. Ich war ein zutiefst besonnener, rationaler Mensch, und wenn mir das Leben, wie in diesem Moment, Spontaneität und Unvernunft abverlangte, war ich überfordert. Was taten andere gehörnte, gedemütigte Männer, wenn sie sich abreagieren wollten? Was immer es war, es trat bei mir nicht als Reflex auf; ich musste es durchplanen, abwägen, beschließen.
    Ich warf die leere Gyros-Pappschachtel in den Mülleimer und wischte mit der Papierserviette kurz über die Resopalplatte des Tisches, damit sich der nächste Gast nicht versehentlich den Ärmel an den fettigen Spuren meines Essens beschmutzte. Dann ging ich ein Stück weiter die Straße hinunter. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte: Ich würde mich betrinken. Das erschien mir plausibel. Und in gewisser Weise auch reizvoll.
     
    Wo war ich? Und warum fühlte sich mein Kopf so an, als würden darin Presslufthämmer getestet?
    Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu justieren, als ich am nächsten Morgen in einer völlig fremden Umgebung erwachte. Ich lag auf einer Matratze, in einem relativ kleinen Raum mit Stuck an der Decke und einem Poster von Che Guevara an der Wand. Neben mir, halb vergraben unter einer Decke, sah ich einen nackten Rücken. Langsam begann ich mich zu erinnern.
    Das war diese Frau mit dem ungewöhnlichen Namen …
    *
    Manchmal brauche ich das einfach. Das ist noch heute so. Ich muss mich austoben. Das Gehirn ausschalten und einfach loslegen. Heute jogge ich, mindestens zehn Kilometer am Stück, ohne Gehpause. Damals aber habe ich getanzt. Ich bin in eine Disco gegangen und dort zielstrebig auf die Tanzfläche. Egal, welche Musik lief – ich habe die Augen geschlossen, die Arme ausgebreitet und angefangen, mich der Musik hinzugeben. Stundenlang manchmal. Ich liebte es, wie mein Atem schneller ging. Ich liebte es sogar, wie ich zu schwitzen begann. Es war schließlich guter Schweiß. Kein Schweiß, der durch Arbeit oder sonst welche mühsamen, lästigen Dinge entstand; es war Lebensschweiß. Spaßschweiß. Glücksschweiß.
    Ich hatte von einer Telefonzelle aus Luna angerufen und sie gefragt, ob sie mich im Kaiserkeller treffen würde. Sie hatte ja gesagt, so wie Luna immer ja sagte, wenn man ihr etwas vorschlug, weil sonst die Gefahr bestand, dass sie etwas verpassen könnte. Und davor hatte sie echt Angst. Doch dann war sie nicht aufgetaucht. Typisch Luna, unzuverlässig bis zum Gehtnichtmehr.
    Ich hatte getanzt. Doch diesmal war es mir nicht gelungen, den Kopf dabei völlig frei zu bekommen. Ich musste ständig an meine Mutter denken. Und an Alabama Karl. Und wie lange es dauern konnte, bis zwei Menschen, die immer in Reichweite zueinander waren, sich endlich fanden. Richtig fanden.
    Ich stellte mir vor, wie die beiden heirateten, wie sie zusammenzogen, zusammenlebten und zusammen alt wurden. Richtig alt. Ich stellte mir vor, wie ich meine greisen Eltern in einer Altenwohnanlage besuchen würde und ich musste lachen. Ich lachte, während ich zu The Cure auf der Tanzfläche herumwirbelte. Ich fühlte mich gut. Das Leben barg so viele Überraschungen und Chancen, dass man ihm einfach nicht böse sein konnte.
    *
    Die Erinnerung kam komplett zurück. Ich hatte mich schließlich nicht bis ins Koma gesoffen, sondern nur einen erquicklichen Alkoholpegel produziert. Einen Pegel, der hoch genug war, dass ich zu flirten begonnen hatte. Was ja eigentlich nicht so meine Art ist.
    Ich hatte gerade die Kaiserkeller-Diskothek verlassen und mir eine etwas ruhigere Kneipe suchen wollen, um mein Gehirn weiter in einem alkoholischen Sud aus Vergessen und Selbstmitleid zu marinieren, als ich förmlich in sie hineinrannte. In die Frau, die nun neben mir lag. Ich hatte sie angerempelt und ihr war das Portemonnaie aus der Hand gefallen, mit dem sie gerade den Eintritt zahlen wollte. Ich hatte ihr geholfen, die Münzen aufzusammeln, die überall auf dem Boden herumgekullert waren.
    »Danke«, hatte sie gesagt, »das

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