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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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beim Aufstehen helfen. Du weißt ja, wie sehr ihn sein Rücken plagt.«
    Und dann fingen wir beide an zu gackern.

    Nachdem meine Mutter und ich den Laden abgeschlossen, zwei Flaschen Rotwein geleert, geredet, gelacht und noch mehr geweint hatten, und mich meine Mama schließlich mit den Worten »Ich muss jetzt ein wenig allein sein und nachdenken«, verabschiedete, stand ich etwas ratlos auf der Straße. Ich war völlig überdreht. Ich platzte vor Energie. Ich musste unter Leute. Ich musste mich bewegen. Es war dunkel inzwischen, die ersten Discotheken waren bereits geöffnet. Ich ging also zur U-Bahn und fuhr in Richtung Reeperbahn.
    *
    Ich stand vor einer Imbissbude, aß Gyros und schaute möglichst unauffällig zur Davidstraße hinüber, dieser kleinen Seitenstraße der Reeperbahn, in der junge Prostituierte aufgereiht standen wie Kegel in der Kegelbahn, bereit umgestoßen zu werden. Ich hatte mein Gyros extra ohne Tsatsiki bestellt, obwohl ich Tsatsiki sehr mochte. Ich plante schließlich, mit einer dieser jungen Frauen dort Sex zu haben, und es wäre mir sehr unangenehm gewesen, wenn ich knoblauchigen Mundgeruch gehabt hätte.
    Eigentlich passte es gar nicht zu mir, käuflichen Sex zu erwägen, aber auf der Fahrt hierher war mir klargeworden, dass meine Chancen, spontan eine hemmungslose, willige, mir ohne große Vorrede verfallende Frau zu finden, gleich null waren. Nicht in meiner derzeitigen, uncharmanten Verfassung. Und auch nicht angesichts meiner generellen Schüchternheit gegenüber Frauen. Deswegen stand ich nun hier, am Imbiss, schräg gegenüber den Prostituierten. Natürlich hatte ich gar keinen Hunger. Ich benutzte die Frittenklitsche nur als Beobachtungsposten. Als ob ich in ein Schaufenster blickte.
    Da war eine Blonde mit braunen Augen, die ich besonders oft anschaute. Blond und braunäugig war für mich eine sehr ansprechende Kombination. Aber sie kaute die ganze Zeit Kaugummi. Das fand ich wiederum unattraktiv. Eine der anderen Frauen hatte pechschwarzes Haar, ganz lang und seidig, aber sie strich sich ständig die Hände an ihren Oberschenkeln ab, so als ob sie schwitzte. Dabei war es nicht besonders warm. Und über die Rothaarige, die eine Art grellbunten Aerobicanzug trug, dessen Farben mich an eine Reportage erinnerten, die ich über einen LSD-Trip gelesen hatte, mochte ich lieber gar nicht nachdenken.
    Meiner Wut auf Sophie hatte sich eine gewisse Traurigkeit beigemischt, was meine sexuelle Skrupellosigkeit etwas bremste. Andererseits hatte ich mich inzwischen schon so weit in meine Vorstellung eines bedeutungslosen, ekstatischen Geschlechtsakts hineingesteigert, dass ich von einer unbestreitbaren Geilheit beseelt war. Ich stand also da, mit meinem knoblauchfreien Schweinefleisch-Snack, und musterte die Armada von Frauen, die in Leggings und hohen Stiefeln zur Abholung bereitstand.
    Ich fand die Vorstellung, mir eine Frau zu mieten, irgendwie bizarr. Ich stellte mir vor, was wohl deren Eltern darüber dachten, dass ihre Töchter, in die sie womöglich so große Hoffnungen gesetzt hatten, gegen Gebühr ihre Körper zur Verfügung stellten. Aber dann sagte ich mir, dass viele dieser Frauen vermutlich aus Verhältnissen stammten, in denen niemand irgendwelche Hoffnungen in irgendjemanden setzte. Wahrscheinlich waren viele von ihnen vernachlässigt oder geschlagen oder missbraucht worden. Ich sah mir die zu stark geschminkten Gesichter der Prostituierten an und erkannte, dass unter dem Make-up oft noch halbe Kinder steckten, achtzehn-, neunzehnjährige Mädchen. Zwei, drei Jahre jünger als ich. Sie taten mir leid. Und ich dachte über das Schul- und das Sozialsystem nach, das solche Kinder durch die Maschen fallen ließ und fragte mich, wie man solche Missstände beheben könnte.
    Während ich diese Gedankenkette knüpfte, wurde mein Bedürfnis nach Sex mit einer dieser Frauen verständlicherweise immer geringer. Nein, ich konnte das nicht. Sex mit einem wandelnden Sozialdrama? Sex mit einer Frau, die sich im besten Falle einen Scheiß für mich interessierte oder im schlimmsten Falle sogar von mir angeekelt war? Der Gedanke allein machte mich traurig. Und ich schämte mich, es überhaupt in Erwägung gezogen zu haben. Blöd, dachte ich, als ich den letzten Bissen Gyros in den Mund schob. Dann hätte ich ja auch Tsatsiki nehmen können.
    Ich kann hochkomplexe Thermenberechnungen vornehmen, habe während meines Studiums mehr als einmal einen Professor auf einen Fehler hingewiesen (speziell in

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