Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
ja noch absolut nichts geleistet.
    Ich musste mich nützlich machen! Jawohl, ich musste Eigeninitiative ergreifen! Und da fiel mir plötzlich etwas ein: Etwa einen Kilometer weiter die Straße hinunter hatte ich bei der Hinfahrt einen Hof gesehen. Einen richtig großen Hof. Vielleicht hatte man da für uns Schlafplätze? Mit dieser Entdeckung würde ich garantiert ein paar Punkte im Team sammeln. Und ein noch schönerer Knalleffekt wäre es, wenn ich alle mit der guten Nachricht überraschen würde. Wie ein rettender Engel. Das wäre ein sehr cooler Auftritt. Also sagte ich niemandem Bescheid, als ich die Gaststube verließ und mich durch den peitschenden Regen auf den Weg zu dem Hof machte.
    *
    Was, um Himmels willen, hatte ich mir eigentlich gedacht, einen Resthof zu kaufen? Ich war ein Großstadtkind ohne jede praktische Begabung. Ich war ein Kopfmensch. Ich hätte den Bewohnern von Linstahn im Detail erklären können, wie es zu Stürmen wie diesem kam, was Druckgradienten sind, wo die Unterschiede zwischen Steigungs-, Konvektions- und Frontregen liegen. Ich hätte ihnen auch die interessante Lebensgeschichte von Sir Francis Beaufort erzählen können, dem britischen Seefahrer, der 1806 während seiner Fahrt mit der Woolwich eine Maßeinheit für Sturmwinde entwickelte, indem er das Gesamtverhalten seiner Hauptsegel in Tabellen eintrug und daraus Formeln entwickelte. Die sogenannte Beaufort-Stärke (v = 0,8360 m/s · B 3/2 ) ist bis heute die mathematisch sinnvollste Form der Windgeschwindigkeitsberechnung. Was ich dagegen nicht konnte, war, praktisch auf radikal erhöhte Beaufort-Werte zu reagieren. Was tut man, wenn einem der Wind um die Ohren tost und Hektoliter von Wasser auf einen niederkrachen? Ich hatte keine Ahnung!
    Ich rannte wie ein aufgeschrecktes Huhn auf meinem neu erworbenen Anwesen herum, suchte nach Fensterläden, die ich eventuell hätte zuklappen können, wuchtete zwei Holzplatten unbekannter Herkunft vor meine Terrassentür, damit der Sturm die Scheiben nicht zerbersten lassen konnte und beschloss dann nach dreißig Minuten hirnrissigem Herumgestratze, während dem ich bis auf die Knochen durchweichte, dass ich letztlich nichts anderes tun konnte, als mich in mein Haus zu hocken und zu warten, bis der ganze Wahnsinn vorbei war. Ich wusste nichts davon, dass ganz in der Nähe Menschen verzweifelt Sandsäcke schleppten, um den Deich abzusichern, sonst hätte ich sicher geholfen. Ich wusste nur, dass ich alles Scheiße fand.
    Nicht mal der Fernseher ging mehr. Der Strom war ausgefallen. Keine Glotze, kein Telefon, keine Klingel. Letzteres war natürlich das kleinste Problem: Ich erwartete schließlich keinen Besuch.
    *
    Ein Kilometer kann sehr lang sein, wenn einem das Wetter dabei mit voller Wucht ins Gesicht schlägt. Ich kämpfte mich verzweifelt gegen den Wind und durch den brutalen Regen vor. Dann – ich fühlte mich bereits wie ein Schwamm – sah ich endlich den Hof. An einem sonnigen, windstillen Tag, hätte ich nun keine fünf Minuten mehr gebraucht, um dort anzukommen – bei diesem Wetter brauchte ich fast noch zwanzig. Ich versackte mit den Füßen immer wieder im Boden, der sich in eine Art Treibsand verwandelt hatte. Aus Wegen waren schlammige Bäche geworden.
    Schließlich stand ich dann aber doch vor der Tür. Auf dem völlig aufgeweichten Hof davor stand ein Auto. Es schien also jemand zu Hause zu sein. Andererseits: Bei diesen Straßenverhältnissen konnte man wahrscheinlich gar nicht fahren. Falls die Bewohner des Hofes die Flucht angetreten hatten, waren sie zweifelsohne zu Fuß unterwegs. Oder mit einer Pferdekutsche. Oder was man sonst so hatte auf dem Land.
    Ich drückte auf die Klingel.
    Nichts.
    *
    Ich saß vielleicht eine Viertelstunde in meinem sturmumpeitschten Wohnzimmer, als mir etwas Schreckliches einfiel: Wo war die Katze? Ich hatte sie völlig vergessen! So ein armes, hilfloses Tier! Was war ich doch für ein Unmensch, dass ich erst jetzt an sie dachte. Ich sprang auf und fing an, in maßloser Hektik das ganze Haus zu durchsuchen. Ich hoffte inbrünstig, dass sie sich irgendwo im Gebäude versteckt hatte. Da draußen war sie in Lebensgefahr!
    Die Suche dauerte nicht lange. Ich hatte schließlich noch so gut wie keine Möbel, und ein gähnend leeres Gebäude zu durchsuchen, war nicht besonders zeitintensiv. Muschi war nirgendwo!
    Ich zögerte nur kurz, dann beschloss ich, kein Feigling, sondern ein ganzer Mann zu sein. Ich rannte zur Eingangstür und

Weitere Kostenlose Bücher