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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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hatte der Regisseur gesagt. »Das akzentuiert visuell die emotionale Tragweite der Geschichte.«
    Nur zur Erinnerung: Wir drehten eine Fernsehschnulze über eine nette Nonne. Eine bessere Telenovela!

    Als wir in Linstahn ankamen, herrschte ein ziemliches Gewusel. Und ein Schweinesturm! Es goss in Strömen. Nach dem Zustand der Straßen, die sich wie kleine Flüsse durch die Gegend schlängelten, hatte es schon die ganze Nacht geregnet. Ich fragte mich schaudernd, ob der Deich tatsächlich bald einen kleinen Knacks bekommen könnte. Es rannten jedenfalls diverse Leute mit Schaufeln und Sandsäcken herum, um vermutlich eben das zu verhindern. Am Ortsrand standen zwei Wagen der freiwilligen Feuerwehr.
    »Okay«, sagte der Regisseur, als wir vor der einzigen Gaststätte des Dörfchens standen und uns endgültig klarwurde, dass wir nicht das drehen konnten, was wir uns vorgenommen hatten. »Dann improvisieren wir eben!«
    Alle starrten ihn an. Improvisation war nicht das, was man beim deutschen Fernsehen tat, wurde mir von der Seite zugeraunt. Hier bedeutete jede Minute Geld, und darum waren Entscheidungen nur sehr selten spontan.
    »Wir filmen den Sturm, für Impressionen im Zwischenschnitt«, ordnete der Herr Regisseur an.
    Der Kameramann lachte herzhaft, als hätte er gerade den besten Witz aller Zeiten gehört. Er war in den Fünfzigern und im Gegensatz zum Regisseur, der Ende zwanzig und frisch von der Film- und Fernsehhochschule München kam, ein abgebrühter Realist. Tatsächlich war er hauptsächlich deshalb engagiert worden, um dem noch unerfahrenen Regisseur so weit unter die Arme zu greifen, dass er ihn notfalls auch durch die Gegend tragen konnte.
    »Hör mal zu, Truffaut«, sagte er und schaute den Regisseur mit unverblümtem Hochmut an. »Wir drehen hier gar nichts. Hier ist Chaos. Alles nass. Alles Scheiße. Was wir machen, ist Folgendes: Wir setzen uns in die Kneipe da drüben und warten, bis das Wetter sich beruhigt hat.«
    »Also, hör mal«, begann sich der Regisseur zu empören, knickte aber unverzüglich ein, als er in den Gesichtern des gesamten Teams erkannte, dass niemand hier auch nur ansatzweise mit dem Gedanken spielte, an der Aufnahme von Regen-Improvisationen mitzuwirken.
    »Ab in die Kneipe also!«, rief der Regisseur und preschte voran. Sein Regenschirm mit dem Arri -Kopierwerk-Aufdruck war in dem Sturm längst zu einem verbogenen Skelett mutiert. Wir alle folgten ihm in die Gaststube. Fünfunddreißig nasse Leute.
    »Wir haben zu!«, rief eine Frau, die hektisch Dinge zusammenräumte, als unsere Menschenwelle in die Kneipe schwappte.
    »Wir wollen gar nichts essen«, sagte der Kameramann. »Wir brauchen nur einen Unterschlupf.«
    »Ist gut«, rief die Frau, während sie bereits in die Küche flitzte. »Aber nichts klauen, und wenn ihr Bier zapft, genau aufschreiben wie viele!« Ich schaute aus dem Fenster. Es war ein unglaubliches Unwetter. Der Regen nahm einfach kein Ende.
    »Wir sollten einfach wieder zurück nach Berlin fahren«, sagte Theresa, die mütterliche Hauptdarstellerin unseres Films. »Das hat doch alles keinen Sinn.«
    »Die Zufahrtsstraßen sind gesperrt!«, rief die Wirtin aus der Küche.
    Wir schauten uns alle erschrocken an.
    »Haben Sie Gästezimmer«, fragte der Kameramann, der jetzt komplett die Katastrophen-Regie übernommen hatte. Der Regisseur schaute derweilen frustriert aus dem Fenster und sah vermutlich seine noch nicht begonnene Karriere davonschwimmen.
    »Nein«, rief die Wirtin aus der Küche.
    »Gibt’s hier ein Hotel?«, fragte Theresa.
    Die Wirtin lachte. Auch eine Antwort.
    Wir begriffen, dass uns eine hochgradig beschissene Nacht bevorstand: Zusammengequetscht in einem Gastraum, der nicht einmal genügend Stühle für uns alle bot. Falls man uns überhaupt erlauben würde, über Nacht hier drin zu bleiben.
    Der Tontechniker ging hinter den Tresen und stellte ein Glas unter den Zapfhahn. »Wer will alles ein Bier?«, fragte er.
    Eine Menge Finger schossen empor.
    Ich konnte den Regisseur, der inzwischen aussah, als würde er gleich zu weinen beginnen, gut verstehen. Auch für mich sollte das hier ja ein beruflicher Einstieg werden. Und jetzt drohte die Gefahr, dass wir nach einer nervigen Nacht einfach alles wieder zusammenpacken und uns verkrümeln würden. Wer wusste schon, ob nicht gleich der ganze Dreh verschoben wurde und mein Job als Set Trainee zu Ende wäre, bevor er überhaupt begonnen hatte. Niemand würde sich an mich erinnern, denn ich hatte

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