Königskinder
entführt worden. Erst Wochen später habe ich in einer TV-Dokumentation die Tonaufnahmen der Passagiere des United-Airlines-Fluges 93 gehört. Da waren Menschen, die wussten, dass sie in wenigen Minuten sterben würden. Und was taten sie? Die meisten nahmen ihre Handys und riefen ihre Lieben an. Ihre Frauen, Männer, Kinder, Eltern, Freunde. Sie sagten ihnen, dass sie sie liebten. Ihr letzter Gedanke galt den Menschen, die ihr Leben bereichert hatten. Wie konnte eine Welt schlecht sein, in der Männer und Frauen im Angesicht des Todes nur an eines dachten: eine Liebeserklärung loszuwerden. Es war herzzerreißend. Ich weinte hemmungslos vor dem Fernseher. Ich weinte und weinte. Um die Toten, um die Hinterbliebenen – und auch ein wenig um mich selbst.
Wen würde ich anrufen, wenn ich in dieser Situation wäre?
Kapitel 17
2001
E igentlich sind Männer klüger als Frauen. Sie wissen nämlich viel besser als wir, wann es sich lohnt, Zeit, Energie und Herzblut zu investieren. Und wann nicht.
Männer versuchen deshalb gar nicht erst, uns Frauen zu verstehen. Während wir dummen Hühner uns unser ganzes Leben lang abmühen, so etwas wie eine Logik im männlichen Verhalten zu entdecken, unermüdlich Strategien entwickeln, wie wir uns für diese Spezies begehrenswerter machen können, uns Erklärungen zusammenbasteln, warum wir den Kerlen dies und jenes verzeihen sollten – wieder und wieder –, sagen Männer bloß: »So sind sie eben, die Weiber. Die verstehe, wer will.«
Als ich erfuhr, dass meine Mutter Karl verlassen hatte, war ich für einen Moment versucht gewesen, es den Männern gleichzutun. Ich musste das nicht verstehen! Da gab es nichts zu verstehen! Das war doch einfach nur irre. Aber dann fragte ich doch nach. Und letztlich veränderte es mein Leben.
Es war so gewesen: Meine Mutter war eines Morgens aufgestanden, hatte Tee gekocht, Toast in den Toaster geschoben, den Tisch gedeckt und ihren Mann mit einem Kuss begrüßt, als er wie üblich splitternackt in die Küche kam und sich an den Tisch setzte.
»Ich hatte einen total verrückten Traum letzte Nacht«, sagte meine Mama.
»Mmmmh«, brummte Karl.
»Ich lag auf einer Luftmatratze und trieb auf dem Meer«, fuhr Mama fort. »Nirgendwo war ein Ufer in Sicht. Aber ich fühlte mich trotzdem ganz sicher und sehr wohl. Die Sonne schien, aber sie brannte nicht. Ich weiß noch, dass ich dachte: Gut, dass es hier keine Haie gibt.«
Sie schaute Karl an, der sich Ingwermarmelade auf sein Toast schmierte. Er hatte sie angesehen, sein schiefes Alabama-Grinsen gegrinst und noch einmal ge-mmmht.
»Ich habe keine Ahnung, wieso ich wusste, dass es keine Haie in diesem Meer gibt. Ich wusste es einfach. Da waren einfach nur das Meer und ich.«
Alabama Karl goss sich Tee ein.
»Ich war so ruhig und entspannt. Und ich schlief ein. Verstehst du: In meinem Traum schlief ich ein. Und als ich dann wieder erwachte … im Traum, meine ich. Also, ich träumte, dass ich erwachte. Und da lag ich immer noch auf meiner Luftmatratze, und da war immer noch das Meer und keine Haie, und alles war genauso wie vorher. Und ich dachte: Das ist ja seltsam. Eigentlich müsste doch … Verstehst du, Karl?«
Alabama kaute seinen Toast.
»In einem Traum passiert doch etwas. Ich habe in meinem Traum gedacht, dass das ein merkwürdiger Traum sei, in dem es immer nur so weitergeht. Ohne Haie und mit dem ruhigen Meer und …«
Meine Mutter sah Karl an. Der erwiderte den Blick, aber da war etwas in seinen Augen … nein, da fehlte etwas, in seinen Augen und in seinem Blick, und da begriff meine Mutter, dass er ihr überhaupt nicht zugehört hatte.
»Was habe ich eben gesagt?«, fragte sie.
»Du hast von deinem Traum erzählt«, antwortete Karl und nahm noch einen Schluck Tee. »Du warst auf einer Luftmatratze.«
Er hatte ihr offenbar doch zugehört, zumindest am Anfang. Aber er hatte ihr nicht zugehört . Da gibt es einen großen Unterschied.
Und das war der Moment, in dem meine Mutter zu begreifen begann, dass alles nur eine Illusion gewesen war. Dass Alabama Karl sie nicht glücklich machte, sondern nur ruhigstellte. Dass er sie in Sicherheit wiegte. Er wiegte sie, wie man ein Baby wiegt, es einlullt und zum Dösen bringt. Es ist okay für eine Weile, aber es ist nicht das Leben. Es ist nicht genug.
Als meine Mutter mir all das ein paar Tage später erzählte, in ihrer Küche, in der nun kein Alabama Karl mehr saß, sagte sie: »Dein Vater tut niemandem etwas zuleide. Es tut
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