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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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einen Harem vor.
    Walter hatte ein weiteres Zugeständnis gemacht: Er hatte eingewilligt, dass die große Feier mitten in der Woche, an einem Dienstag, stattfinden würde. Hassans Familie und Freunde steckten ihre Kinder im Gegensatz zu Sophies Verwandtschaft wochentags nicht um acht ins Bett, und so mancher hatte auch keine Skrupel, die lieben Kleinen am nächsten Tag die Schule schwänzen zu lassen, wenn sie erst um Mitternacht mit dem Kopf auf einer Tischplatte eingeschlafen waren. Unter Türken hatten Familienfeiern Priorität. Und Walter war immerhin arrogant und herrisch genug, um anzukündigen, dass die Hochzeitsfeier seiner Tochter so wichtig sei, dass er auch von seinen Verwandten und Freunden mitten in der Woche undeutsche Feierbereitschaft erwartete.
     
    Ein Streichquartett spielte die »Pavane« von Gabriel Fauré, als wir Gäste eintrafen. Auch da sage ich: Hut ab, Walter. Nicht nur, dass ein Streichquartett eine tolle und stilvolle Untermalung für ein Festessen war, die Wahl von Faurés schönster Komposition hatte einfach Stil. Nach dem Essen sollten die Streicher zusammenpacken und eine Band, die Hassan und Sophie aussuchen durften, sollte die Bühne besteigen. Es sollte getanzt werden. Doch dann kam alles anders.
    *
    Im ersten Moment dachte ich, ich wäre in einen Katastrophenfilm geraten. Einen mit Handkamera im pseudo-dokumentarischen Stil gefilmten Actionkracher. Doch dann dämmerte mir, dass ich die Wirklichkeit erlebte.
    Ich sah einen brennenden, qualmenden Turm des World Trade Center!
    Waren das wirklich Menschen, die von dort oben hinuntersprangen?
    Wie in Trance setzte ich mich auf den Fußboden vor dem Fernsehgerät. Der Kaffeebecher in meiner Hand erkaltete, während ich fassungslos in die Glotze starrte. Über eine Stunde lang saß ich nur da, traute meinen Ohren und Augen nicht.
    Ein Terroranschlag? In solch einer Dimension? Und da waren offenbar noch andere Flugzeuge gewesen, in Washington. Im Pentagon! Niemand wusste bislang etwas Genaues, aber immer mehr entsetzliche Informationen und Bilder brachen über mir zusammen. Es war, als ob der Rauch der Twin Towers aus der Glotze zu mir ins Zimmer ziehen würde, mir direkt ins Gesicht. Ich fühlte mich benebelt, betäubt, atemlos.
    Ich verachtete die Außenpolitik der USA. Ich hatte oft genug für einen autonomen Palästinenserstaat demonstriert, verwahrte mich aber natürlich energisch dagegen, als Antisemit beschimpft zu werden, nur weil ich die Politik der israelischen Regierung als barbarisch betrachtete, und ich hielt die Männer im Weißen Haus für gemeingefährliche, soziopathische Monster. Doch hier ging es nicht um Politik. Das hier war einfach nur ein Massenmord. Ein grausames Nehmen von unschuldigen Menschenleben. Ein bestialischer Akt von Unmenschen.
    Ich wusste, dass es nun noch mehr Krieg geben würde. Dass nun noch mehr unschuldige Menschen sterben würden. Frauen und Kinder. Und dass um die kaum jemand bei uns weinen würde. Dass sie es nicht zu einer Sondersendung im Fernsehen bringen würden, sondern nur zu einer kurzen Nachricht in der Tagesschau.
    Ich weinte. Ich saß auf dem Boden, umkrampfte mit beiden Händen meinen eiskalten Kaffeebecher, und ich weinte still und ausdauernd. Ich weinte um die Welt.
    Dann klingelte das Telefon.
    Für einen Moment war ich versucht, es zu ignorieren. Es erschien mir als eine nahezu unmögliche Herausforderung, mich aus meiner Trauerstarre zu lösen, mich zu erheben und nach dem Hörer zu greifen. Andererseits hatte ich das Bedürfnis zu reden. Ich musste darüber sprechen, sonst würde ich womöglich nie wieder aufstehen können. Ich stellte den Becher also auf den Fußboden, rappelte mich hoch und nahm ab.
    »Hallo?« Meine Stimme war belegt. Es kam kaum mehr als ein Flüstern aus meinem Mund.
    Auf der anderen Seite hörte ich es nur atmen. Mehr nicht.
    »Hallo?«, sagte ich noch einmal.
    Und dann war da ein Weinen. Ein tiefes, kehliges Schluchzen. Ich erkannte es erstaunlicherweise sofort. Es war Alabama Karl.
    »Papa?«
    »Simone«, krächzte Karl und räusperte sich.
    »Papa?«
    »Es …«, begann er und hustete. »Es ist so schrecklich.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
    »Woher weißt du es denn schon?«, fragte er erstaunt.
    »Ich habe es im Fernsehen gesehen.«
    Für einen Moment war es still. Dann begriff er. »Ach das«, sagte er. »Das meine ich nicht.«
    Jetzt schwieg ich verwirrt.
    »Es geht um deine Mutter«, sagte Karl schließlich. »Sie … Sie hat mich

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