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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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verlassen!«
    *
    Als gerade die Vorsuppe serviert wurde, rannte ein junger Mann, den ich nicht kannte, der aber offenbar zu Sophies Hälfte der Gäste zählte, aufgeregt zu den Musikern und gab ihnen ein Zeichen, aufzuhören. Er schwenkte ein Handy und hatte einen hochroten Kopf. Ich sah, dass seine Hände zitterten.
    »Sie haben das World Trade Center gesprengt!«, rief der junge Mann. »Terroristen! Diese Schweine haben Flugzeuge in das W–«
    Der Rest ging in einem Tumult unter. Viele sprangen auf, alle riefen etwas durcheinander. Fassungslos, verwirrt, fragend. Viele griffen selbst zu ihren Handys und riefen jemanden an, um eine Erklärung zu bekommen. Ich hörte in dem Chaos nur Worte und Satzfetzen heraus: »eingestürzt«, »tausend Tote«, »Terroristenschweine«, »Araber«, »Moslems«, »O Gott«. Das vor allem und immer wieder: »O Gott!«.
    Ich aber saß ganz still da. Perplex. Ich schäme mich maßlos, es zuzugeben, aber dies ist ein ehrlicher Bericht, also gestehe ich es: Das Allererste, das mir durch den Kopf schoss, waren die statischen Fakten des Twin-Towers-Gebäudekomplexes. Das hatten wir am Anfang meines Architekturstudiums behandelt. Das World Trade Center galt als statisch nahezu perfekt konstruiert. Ein Meisterwerk der Stabilität. Wie konnte so etwas einstürzen? Ein Flugzeug? Das musste – ich kalkulierte grob Eintrittsfläche und -winkel, Geschwindigkeit und Nebenfaktoren wie die Menge an freigesetztem Kerosin – mindestens ein Jumbo-Jet gewesen sein! Ein Jumbo-Jet in Manhattan? So niedrig?
    Während alle wild herumrannten, telefonierten, begriffen, zu weinen begannen, sich wunderten, schluckten und starrten, blieb ich sitzen. Dann sah ich Tom-Volkan, der ganz allein am Kindertisch saß. Die anderen Kinder waren aufgesprungen und zu ihren Eltern gelaufen, doch der vierjährige Sohn meiner Freunde befand sich in einer ähnlichen Schockstarre wie ich. Er schaute mit seinen großen, runden, braunen Augen ängstlich umher. Er begriff nicht, was los war. Ich stand auf und ging zu ihm. Ich kniete mich vor ihn und sagte: »Hey.«
    »Hallo, Onkel Mark«, sagte Tom-Volkan leise und verunsichert.
    »Etwas Schreckliches ist geschehen.« Ich erinnerte mich, wie ich als Kind alles, was an großen Dingen geschah, immer direkt auf mich bezogen hatte. Jeder Krieg, der irgendwo ausbrach, schien Raketen in meine Richtung abzufeuern. Deshalb legte ich meine Hand auf die Schulter des Jungen und sagte: »Aber wir sind hier sicher. Uns passiert nichts.«
    »Was ist denn los?«, fragte er.
    »Verrückte Menschen haben ein Haus kaputtgemacht.«
    »Kann man das wieder aufbauen?«
    »Natürlich«, sagte ich. »Man kann alles wieder aufbauen.«
    Dann nahm ich den Jungen in den Arm. Tom-Volkan drückte sich an mich.
    Wir sagten beide nichts mehr.
    Ich schaute mich um und sah, dass viele Leute weinten. Ich sah Menschen, die sich umarmten. Dann dämmerte mir, dass hier zwei Welten zusammentrafen. Auf der einen Seite vorwiegend reiche, erzkonservative Deutsche, auf der anderen Seite muslimische Türken. Es könnte Beschuldigungen geben, Beleidigungen, Streit. Es könnte krachen. Doch als ich sah, dass sogar Walter weinte, der vermeintlich herzlose Walter, wusste ich plötzlich, dass das nicht geschehen würde.
    Sophie schaute zu uns hinüber. Sie suchte ihren Sohn. Als sie sah, dass ich den Jungen hielt, lächelte sie mich an. Ich nickte ihr zu.
    Ging ihr in diesem Moment dasselbe durch den Kopf wie mir? Dass es lange so ausgesehen hatte, als würde es ganz normal sein, dass ich ihr Kind umarmen würde. Weil es nämlich auch mein Kind gewesen wäre?
    Wahrscheinlich nicht. So egoman war nur ich.
     
    Die Hochzeitsfeier war keine Feier mehr. Es war nur noch eine pseudoorientalische Harems-Halle voller Menschen, die einander trösteten und zu begreifen versuchten. Und selbst später, als einige Männer miteinander zu diskutieren begannen und es doch noch politisch wurde, blieb man zivilisiert. Wenn jemand hier alle Moslems unter Generalschuld stellte oder sich insgeheim über den gelungenen Terrorakt freute, behielt er es lobenswerterweise für sich.
    Ich begriff natürlich, was geschehen war. Ich war natürlich ebenso entsetzt und empört wie alle anderen. Aber es war ein rationales Verstehen. Die volle menschliche Tragödie erschloss sich mir erst später. Mein Herz blutete erst, als ich alle Fakten hatte. Als ich vollständig begriff. Es war ja nicht nur das World Trade Center gewesen. Es waren weitere Flugzeuge

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