Körper-Haft (German Edition)
noch dazu das Gerichtsarchiv kannte!
Und selbst wenn ich jemanden gefunden hätte, wie hätte er mir dieses Bild, das ich zum Springen brauchte, vermitteln können? Per E-Mail? Das ging nicht, da ich keinen Anschluss besaß. In einer Welt, in der das halbe Leben schon virtuell geworden war – von der Photographie, bis hin zu unseren Facebook-Freunden – wollte ich nichts weiter als ein Bild des Gerichtsarchives, um mein Mobil-Ich dorthin zu leiten. Sprich, ich wollte mich mit meinem virtuellen Körper dort einfach mal umsehen, ob ich auf etwas stoße, was ich vorher übersehen hatte. Es ist schon paradox, dass sich der Zugang zu anderen virtuellen Ebenen nicht von allen Seiten her erschließt. Bei diesen Gedanken rauchte mir schon der Schädel und ich zog mich an den Ort meiner inneren Ruhe zurück.
Die Zwischenebene tat mir gut! Mein Denken war plötzlich wieder viel klarer und Lösungsansätze, die mir nie vorher in den Kopf gekommen waren, tauchten plötzlich scharf umrissen auf. Wenn ich ins Archiv kommen wollte, musste ich zuerst in das Gerichtsgebäude. Dieses Gebäude, oder zumindest den Gerichtssaal, kannte ich nur zu gut.
Entweder ich fand von dort aus alleine das Archiv oder ich ging in eine x-beliebige Gerichtsverhandlung, wartete auf das Ende und folgte dem Gerichtsdiener in das Archiv, um zu sehen, wo die Artefakte aufbewahrt wurden.
»Das ist ein Plan!«, dachte ich. »Einfach nur an meine Gerichtsverhandlung denken und ich müsste im Gerichtsaal stehen.«
Ich suchte mir eine besonders emotionale Szene aus, in der mich Ronald und Nancy mit Todesverachtung ansahen. Das müsste ausreichen, um dorthin zu kommen!
Ein Blinzeln und … alles war anderes als erwartet und doch nicht! Ich hatte geplant, mich im Hier und Jetzt in den Gerichtsaal begeben, um dort einer völlig fremden Verhandlung beizuwohnen. Ich befand mich tatsächlich im Gerichtssaal, aber ich befand mich darüber hinaus auch mitten in meiner eigenen Verhandlung!
Entweder war ich einmal mehr während meiner Meditation eingepennt oder … das konnte doch nicht sein … ich war nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit gesprungen! In meine eigene Vergangenheit! Nancy und Ronald schauten mich gerade mit dieser Todesverachtung an, wie ich sie noch in Erinnerung hatte. Es war der Moment, in dem alle Indizien gegen mich gesprochen hatten.
Meine Ersatzeltern hatten mich an diesem Tag für immer verstoßen! Mir wurde plötzlich klar, dass sich mein Mobil-Ich genau an dem Platz befand, an dem ich auch während der Verhandlung gesessen hatte. Ich saß also mitten im ICH meiner eigenen Vergangenheit!
Ein Schauer lief mir über den Rücken und mich fröstelte. Es war als befände ich mich in einer Haut, die ich schon vor Jahren abgestreift hatte. Und irgendwie war es ja auch so! Das Gefühl war überaus eigenartig, um nicht gruselig zu sagen.
Dass ich im Geiste herumreisen konnte, war schon schräg genug für meinen Verstand, aber dass ich Exkursionen in meine eigene Vergangenheit und noch dazu in meinen vergangenen Körper unternehmen konnte, war ein bisschen viel für mich.
Ruckartig stand mein Mobil-Ich auf und lief verstört nach vorne, um nicht noch mit einem anderen Körper in Kontakt zu kommen. »Was in aller Welt«, dachte ich, »würde passieren, wenn mein heutiges Mobil-ich mit einem der Anwesenden der Vergangenheit kollidieren würde? Gäbe es auch einen Austausch der Gedanken? Und was würde dann passieren? Würde ich dann diesmal frei gesprochen und dennoch auf einer anderen Zeitebene das gleiche Schicksal erleiden, wie es mir bereits widerfahren war?« Ich hatte keine Ahnung! Wie sollte ich auch! Schließlich gibt es kein Handbuch für außerkörperliche Spaziergänge, die obendrein auch noch in einem Zeitparadoxon gipfelten.
Schwankend kam mein Mobil-Ich zum Stehen. Immer peinlichst darauf bedacht, niemandem zu nahe zu kommen. Hatte ich mein vergangenes Ich bereits durch den Kontakt mit den Gedanken meines heutigen Mobil-Ich infiziert? Ich jedenfalls hatte keine fremden Gefühle in mir. Aber warum auch? Schließlich hatte ich diese Gefühle alle schon einmal gehabt. Die Frage war: Hatte mein heutiges Ich irgendwelche neuen Gedanken in meinem alten Ich hinterlassen?
Alles drehte sich um mich. In einer geistesgegenwärtigen Reaktion zog ich mich auf meine Zwischenebene zurück. »Einfach tief durchatmen, wieder zu mir kommen. Ha, wieder zu mir kommen! Bei so vielen Ichs war es gar nicht so einfach, wo ich wieder zu Mir kommen
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