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Körper-Haft (German Edition)

Körper-Haft (German Edition)

Titel: Körper-Haft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Romey
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praktizieren!« Die ersten Mosquitos waren gerade gelandet und suchten wie Geologen die Oberfläche meiner Haut ab, um die erste Probebohrung zu setzen, um das rote Gold zutage zu fördern.
    Was sollte ich tun? Meinen Körper im Stich lassen? Mich auf meine Zwischenebene zurückziehen, während mein Körper als Blutbank missbraucht wurde? Aber was sollte es bringen, das Martyrium von krabbelnden Beinchen und gierigen Rüsseln über mich ergehen zu lassen, wenn ich eine Alternative hatte? Das gute Gewissen, meinen Körper nicht verraten, dafür aber den nackten Wahnsinn riskiert zu haben?
    Meine Entscheidung war nach circa zwei Minuten anstrengend bemühtem Stoizismus gefallen. Während die ersten Punkte in meinem Gesicht und auf den Armen anfingen zu brennen, zog ich mich auf meine Zwischenebene auf meiner saftig grünen Wiese zurück und überlegte mir, als ob ich neben mir stehen würde: »Wo hatte ich mir in meinem Leben wohl die meisten Insektenstiche eingefangen?« Die Antwort war eigentlich schneller präsent, als ich die Frage gestellt hatte. »Thailand«. Von da assoziierte mein Werberhirn plötzlich wieder völlig eigenständig eines zum anderen und ich saß plötzlich in Gedanken in meinem geliebten Thai-Restaurant, das zwei Querstraßen von der Agentur entfernt lag.
    Gegenüber von mir saß Bia , ein junger Thai, der im Restaurant ab und an beim Bedienen aushalf. Ich erinnerte mich daran, dass ich ihn eine ganze Weile nicht gesehen hatte. Ich fragte ihn, wo er denn so lange gewesen sei.
    Er antwortete völlig akzentfrei: »Ich war daheim, in Thailand.«
    Und ich fragte: »Hast Du Deine Verwandten besucht?«
    »Ja, aber nur kurz, den größten Teil der Zeit hab ich im Tempel verbracht. Bei uns Thais ist es so, wenn man erwachsen wird, muss man sechs Wochen lang im Tempel leben, um den tieferen Sinn des Lebens zu begreifen. Es ist nicht nur ein Ritual, sondern soll uns die Vergänglichkeit aller Dinge und des Lebens näher bringen …«
    Ich war neugierig geworden und fragte ihn allerlei Dinge über das Tempelleben und den dortigen Tagesablauf.
    Das Lokal war an diesem Abend praktisch leer und wir sprachen sehr lange und ausgiebig über seine Erfahrungen dort. Schließlich fragte ich ihn: »Was war die eindrucksvollste Erfahrung, die Du dort gemacht hast?«
    Ich merkte, wie es ihn sichtlich fröstelte und sich die Haare an seinen Armen aufstellten. Es war mir peinlich, da ich davon ausging, unabsichtlich den Finger in eine frische Wunde gelegt zu haben, und sagte: »Entschuldige bitte, ich wollte nicht unhöflich sein.«
    Er hob beschwichtigend seine Rechte und meinte: »Nein, ist schon gut, es ist nur so … so eine eigenartige und tiefe Erfahrung, die ich gemacht habe.« Er drehte seine Augen nach links oben. Ich wusste durch mein Studium, dass dies jeder Mensch tut, wenn er bildhafte Erinnerungen abruft. Scheinbar war er im Geiste schon ganz dort, als er sagte: »Es war das Morgenritual mit dem Besen.«
    Ich war zunächst maßlos enttäuscht und sackte innerlich zusammen. Ich fragte ihn nach seiner eindringlichsten Erfahrung im Tempel und er erzählte mir etwas von einer thailändischen Kehrwoche. Doch mit seinem nächsten Satz verwirrte er mich völlig: »Wir mussten jeden Morgen die vergangene Nacht wegfegen!«
    »Was heißt das, die vergangene Nacht wegfegen?«, fragte ich ungeduldig.
    Er schauderte abermals. »Wenn der Tag zu Ende geht und alle Arbeiten im Tempel erledigt sind, legen wir uns auf den bloßen Steinboden zum Schlafen. Und wenn die Nacht hereinbricht, kommen die Mosquitos. Am Anfang dachte ich, sie würden mir den Schlaf rauben. Aber das frühe Aufstehen und die Arbeit im Tempel machten mich ganz schön müde. Und weder der Steinboden noch die Angst vor den Mosquitos konnten mich vom Schlaf abhalten. Kaum lag ich da, war ich eingeschlafen. Den anderen ging es ebenso. Als wir am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang geweckt wurden, wunderte ich mich über die vielen toten Insekten, die rings um uns herumlagen. Der Priester wies uns an, die letzte Nacht hinwegzufegen, damit sich das Rad des Lebens wieder frei bewegen kann. Er meinte damit, dass wir die toten Insekten wegfegen sollen, um wieder Platz für einen neuen Zyklus von Leben und Sterben zu schaffen.
    Die ersten Tage dachte ich, die toten Insekten wären irgendein eigenartiger Zufall, oder hätten mit irgendeiner Umwelt- oder Klimasache zu tun. Ich kenne mich da ja auch nicht so aus. Aber nach einer Woche lagen immer noch jeden Morgen

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