Körper-Haft (German Edition)
Schlüssel nach links dreht und das Schloss eigentlich aufgeschlossen ist, kann man den Koffer überhaupt nicht öffnen.
Wenn man den Schlüssel nach rechts dreht und das Schloss eigentlich abgeschlossen ist, kann man den Koffer in stehender oder mit dem Gesicht nach unten liegender Position öffnen. In den Schlössern ist ein kleines Gewicht, das immer der Schwerkraft der Erde entgegen strebt. Das eine Mal schließt es die Verriegelung und das andere Mal öffnet sie es.
»Woher weißt Du das?”, fragte Ronald erstaunt.
Nancy lächelte: »Man soll in einer guten Ehe doch keine Geheimnisse haben. Und das habe ich stets versucht einzuhalten. Zumindest, was Deine Geheimnisse anbelangt!« Die beiden lachten und fielen sich in die Arme.
»Was haben wir falsch gemacht?«, murmelte Sunny, der gedankenverloren immer noch über die Frage seines Vaters nachdachte. »Verdammt noch mal! Also waren die Koffer die ganze Zeit aufgeschlossen und lagen nur verkehrt herum auf dem Dachboden!«, sagte Sunny.
Sein Vater lächelte weise: »Die ganze Magie lebt von der Erwartungshaltung! Nur weil der Zuschauer etwas erwartet, heißt es noch lange nicht, dass es so kommt. Genau genommen ist ein Großteil des Lebens genauso. Es passieren oft Dinge, die man nicht erwartet. Aber manchmal ist die Erwartung auch so groß, dass sich Wünsche tatsächlich erfüllen. Man muss nur daran glauben und darf das Staunen nicht verlernen. Ich habe mir immer gewünscht, dass du irgendwann einmal meine Filmsammlung entdecken würdest. Ich hatte nur nicht gedacht, dass Du so jung sein würdest.«
Mir wurde plötzlich klar, dass ich mit dem Koffer ein Stück des Familienerbes geöffnet hatte und drehte ihn zu Sunny. Wir saßen immer noch gemeinsam auf dem Boden und Nancy und Ronald kamen auf allen Vieren zu uns herüber gekrabbelt und knieten sich hinter uns. Sie legten die Arme um uns und Ronald sagte: »Bevor wir hierher gezogen waren, wusste ich gar nicht, dass wir zwei so wunderbare Kinder haben!« Nancy schniefte und schmiegte ihren Kopf an Ronalds Schulter.
»So und jetzt macht den Koffer mal auf und schaut, ob irgendetwas dabei ist, was Euch gefallen könnte.«
Vorsichtig öffneten Sunny und ich den Koffer vollends. Darin lagen hochkant sortiert DVD-Boxen mit Begleitbüchern, selbst gebrannte DVDs und alte Original-Filmplakate und Szenenbilder. Voller Ehrfurcht starrten wir auf Ronalds heilige Kuh . Vorsichtig, wie wenn der Papst die vatikanische Reliquiensammlung befingert, holten wir einzeln die Filme heraus und stellten sie, sobald wir uns die Inhaltsangaben durchgelesen und die Coverbilder angeschaut hatten, ebenso vorsichtig wieder hinein.
Ich hatte gerade einen Film mit Buster Keaton und Sunny einen mit Harold Lloyd in den Fingern, als Ronald hinter uns ins Schwärmen geriet: »Oh, die werden Euch gefallen. Artistik, unglaubliche Stunts, Slapstick und tolle Geschichten …«
»Jetzt komm, lass die beiden doch mal. Wenn sie was über die Filme wissen wollen, dann werden sie schon nach dem wandelnden Filmlexikon im Haus Ausschau halten«, drängte ihn Nancy.
Ronald nickte. »Also Jungs, Ihr wisst ja, wo ihr mich findet, und wenn wir Nancy zum Einkaufen schicken, können wir ja mal heimlich gemeinsam einen Film ansehen.«
Und so eröffnete uns Ronalds heilige Kuh die wunderbaren Welten von Buster Keaton, Harold Lloyd, Charlie Chaplin und vielen, vielen anderen. Mit jedem Koffer, den wir vom Dachboden holten, öffneten wir das Tor zu einer neuen, wunderbaren Welt der Filme ein Stück weiter. Der Tiger von Eschnapur, Der Dieb von Bagdad, Metropolis und etwas, womit wir am Anfang gar nichts anfangen konnten: die bunte Welt der Musicals. Doch spätestens mit Danny Kaye im Film Der Hofnarr waren wir völlig verzaubert. Und Der Zauberer von Oz hielt uns genauso in Atem wie Fred Astaire und Ginger Rogers , die scheinbar ohne atmen zu müssen über gesamte Filmgelände tanzten. Und der Zauber hatte angehalten, bis zum heutigen Tag.
Was nicht so lange hielt, war die Zuneigung, die mir Ariane entgegenbrachte. Durch die fehlenden Auftritte von Sunny und mir war das Licht, das dabei auch auf sie fiel, immer schwächer geworden. Und durch meine fehlende Einkommensquelle waren sowohl die Eisdielenbesuche als auch die Knutschorgien im Kino immer dünner ausgefallen. Vielleicht war es aber auch die mangelnde Speichelkompatibilität … Wie auch immer, Ariane gab mir den Laufpass.
Etwa zur gleichen Zeit hatte auch Sunny von der armen Miranda die Nase
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