Kohärenz 01 - Black*Out
anzupassen. Den Umgang mit neuen Möglichkeiten zu trainieren. Erinnert euch doch mal daran, wie ihr Auto fahren gelernt habt. Fahrrad fahren. Schwimmen. Was auch immer. Am Anfang ist es schwierig. Man denkt, man wird das nie schaffen. Die Gangschaltung im Auto – meine Güte, was kämpft man mit der! Vom ersten in den zweiten Gang zu schalten, dabei die Kupplung zu treten und das Steuer in die richtige Richtung zu drehen – absolut unmöglich; eine völlige Überforderung! Aber zehn Stunden Übung – und man hat es drauf. Läppische zehn Stunden! Nach hundert Stunden ist es so selbstverständlich wie zu atmen. Das Auto fühlt sich wie eine Verlängerung des eigenen Körpers an. Man kann fahren und nebenher diskutieren, Radio hören und den Mädchen am Straßenrand nachschauen – alles gleichzeitig! Weil man es gelernt hat. Weil sich unser Gehirn an die Maschine Auto angepasst hat.« Er hob den Daumen, eine merkwürdige Geste. »Einer Maschine außerhalb von uns, die wir mühsam über Hände und Füße steuern müssen, wohlgemerkt! Wozu wäre unser Gehirn imstande, wenn es eine Maschine direkt steuern könnte? Wenn ein Gedanke genügte? Wir können noch nicht einmal erahnen, was für Möglichkeiten sich damit eröffnen würden. Aber mit der Schnittstelle, die ich vorschlage, würden wir es herausfinden.«
Alle Blicke richteten sich auf Dr. Connery, der die Hände gefaltet hatte und nachdenklich dreinblickte.
»Ich fürchte«, sagte er nach einer Weile, »ich kann das nicht tun. Ein derartiger Eingriff ohne konkrete medizinische Indikation wäre ethisch nicht zu vertreten.« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme. »Offen gestanden habe ich bereits mit unseren Tierversuchen meine ethischen Grenzen erreicht.«
»In der Geschichte der Medizin sind viele Fortschritte nur mithilfe von Selbstversuchen errungen worden«, sagte Linus eindringlich. »Edward Jenner, der so die Pockenimpfung entdeckt hat. Ohne die einer von uns vielleicht schon tot wäre. Werner Forßmann, der sich selbst den ersten Herzkatheter gelegt hat – mein Vater würde nicht mehr leben ohne seine Pioniertat. Und so könnte man noch eine halbe Stunde lang weitermachen!«
»Ich weiß Ihr Angebot zu würdigen, Linus, aber wenn ich Ihnen derartige Gerätschaften einpflanze, wäre das ja kein Selbst versuch. Sondern ein Menschen versuch. Und das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.«
»Es würde funktionieren«, beharrte Linus.
»Vielleicht.«
Linus strich sich über die Ringe entlang seines linken Ohrs. Sie klingelten verhalten. »Und Sie wissen auch, dass ich nicht zu denen gehöre, die grundsätzlich etwas gegen Körpermodifikationen haben.«
»Ja. Aber ich kann es trotzdem nicht tun. Bitte verstehen Sie das.«
Christopher war darauf gefasst, Linus wieder ausrasten zu sehen, aber das geschah nicht. Der stämmige Mann starrte nur einen Moment lang ins Leere, seufzte schließlich und meinte: »Okay. Den Versuch war es wert.«
Das Thema schien für ihn damit tatsächlich erledigt zu sein. Dad deutete später Christopher gegenüber an, Linus habe im Verlauf der Diskussion wahrscheinlich Angst vor der eigenen Courage bekommen und sei insgeheim froh gewesen, dass sein Vorschlag abgelehnt worden war.
Niemand wunderte sich, als Linus kurze Zeit später vier Wochen Urlaub einreichte. Er hatte mal wieder eine neue Freundin: Sie hieß Catherine und war Stewardess bei American Airlines.
»Kalifornien«, erklärte er mit geheimnisvollem Lächeln. »San Francisco Bay. Sonne, surfen … und noch ein Wort, das mit S anfängt, das ich aber nicht aussprechen werde, solange Minderjährige im Raum sind«, fügte er mit einem Blick auf Christopher hinzu.
Die Wochen ohne Linus vergingen im Flug und ohne besondere Vorkommnisse. Dr. Connery, Christopher und sein Dad knobelten immer noch an rätselhaften Signalfolgen im Sehnerv, die sich bislang jeder Deutung entzogen, und Christopher musste nebenher ein paar lästige Arbeiten in der Schule schreiben.
Dann, eines Abends, klingelte es bei ihnen zu Hause an der Tür. Dad, der öffnete, kehrte in Begleitung eines glänzend gelaunten, braun gebrannten Linus Meany zurück. Ja, der Urlaub sei großartig gewesen. Sonne, surfen und so weiter. Und nein, er habe das Labor nicht vermisst, keine Minute.
Aber er war nicht einfach nur gekommen, um sie neidisch auf seine Sonnenbräune zu machen, das merkte man. Er wollte etwas loswerden. Er platzte beinahe.
»Frag mich was«, forderte er Dad schließlich
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