Kohärenz 02 - Hide*Out
Unterschied ist der, dass es die beiden Personen danach nicht mehr gibt. Dass sie eines werden.«
Auf einmal sprachen sie wieder beide im Chor, sprach die Kohärenz wieder durch ihrer beider Münder zu ihm. »Jenseits dessen, was eine Person ist, gibt es Perspektiven, von denen du dir keine Vorstellung machst. Du bist Mediziner, du solltest es wissen, was für einen Unterschied es macht, ob das Nervensystem eines Lebewesens aus ein paar Hundert, ein paar Millionen oder vielen Milliarden Neuronen besteht. Noch bestehe ich nur aus ein paar Hunderttausend Individuen, doch meine Möglichkeiten und Fähigkeiten sprengen bereits alle menschliche Vorstellungskraft. Aber dabei wird es nicht bleiben. Ich spüre schon, dass ich mich einem Schwellenwert nähere, der eine Transformation bedeuten wird. Nicht einmal ich ahne, was dann geschehen wird. Nicht einmal ich ahne, wie es danach sein wird.«
Lundkvist hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Es war, als drücke ihn etwas Unsichtbares, Gewaltiges in den Stuhl, auf dem er saß.
Die Kohärenz. Ihre Gegenwart war Ehrfurcht gebietend.
»Was«, fragte er mühsam, »für eine Transformation?«
»Das menschliche Bewusstsein erwachte, als die Zahl der miteinander vernetzten Neuronen eines Gehirns einhundert Milliarden erreichte«, sagten die beiden Münder, der des Kindes und der der Frau. »Die nächsten Entwicklungssprünge liegen näher. Ich habe einen Bewusstseinswandel durchlaufen, als mehr als tausend Gehirne miteinander in Einklang standen. Ich werde die nächste Stufe irgendwann zwischen einer und zehn Millionen verbundenen Gehirnen erreichen. Das Endziel, davon bin ich überzeugt, ist, dass die Menschheit auf zehn Milliarden Köpfe angewachsen ist, die alle miteinander vernetzt sind und im Einklang stehen: Dann werde ich zu kosmischem Bewusstsein erwachen, zu einem Wesen, das selbst mir in meiner heutigen Form wie ein Gott vorkommen würde. Meiner Geistesmacht wird dann nichts mehr unmöglich sein. Ich werde die Abgründe zwischen den Sternen überwinden und auf Wesenheiten treffen, die meinesgleichen sind.«
Dr. Neal Lundkvist zuckte zusammen, als der Stuhl unter ihm wegzukippen drohte; er konnte sich gerade noch fangen. Der Schreck, ganz klar. Das war alles ein bisschen viel auf einmal.
Das Gesicht seiner Tochter sah ihn so verständnisvoll an, wie Patricia ihm gegenüber nie gewesen war. »Du bist müde«, sagte ihr Mund sanft. »Du solltest nun schlafen. Auch diese Körper benötigen Ruhe. Wir können morgen weiterreden.«
37 | Als er auf dem Bett seines Enkelsohns Eric saß, war Dr. Neal Lundkvist so ratlos wie noch nie zuvor in seinem Leben. Das Zimmer war dunkel, nur die Nachtlampe in der Steckdose verbreitete einen goldenen, kaum wahrnehmbaren Lichtschein. Wenn man hier saß, konnte es einem so vorkommen, als habe man alles nur geträumt. Schlecht geträumt, um genau zu sein.
Er starrte ins Leere und fühlte sich wie eine ausgepresste Orange. Hatte er wirklich am Tisch seiner Tochter gesessen und mit der Kohärenz gesprochen? Ein unwirklicher Gedanke. Eine Erfahrung, von der man niemandem so erzählen konnte, dass er imstande sein würde zu verstehen, wie es ihm jetzt ging.
Er verstand es ja selber nicht mal.
Er sah hinab auf den Waschbeutel, den er in der Hand hielt. Er war damit im Bad gewesen war, als Erster, zum Zähneputzen, das war bestimmt eine Viertelstunde her. Er hielt ihn immer noch in der Hand.
Jetzt stellte er ihn beiseite, auf den Nachttisch. Dort hatten früher Comics gelegen, nun war er leer.
Womit beschäftigte Eric sich jetzt, wenn er mit seiner Mutter allein war? Lundkvist hatte keine Vorstellung, was ein Kind, das zur Kohärenz gehörte, den ganzen Tag über tun mochte. Er sagte sich, dass es Eric in der Form, wie er ihn kannte, sowieso nicht mehr gab, aber das beantwortete die Frage nicht. Saß der kindliche Körper etwa den ganzen Tag still in der Ecke, weil er zu nichts zu gebrauchen war? Das wäre ja auch nicht gesund gewesen.
Überhaupt: Bekam er seine Medikamente noch? Der Diabetes würde ja nicht verschwunden sein, nur weil Eric in der Kohärenz aufgegangen war. Eine Krankheit gehörte zu einem Körper, so war das nun einmal.
Lundkvist öffnete die Reisetasche, holte den Schlafanzug heraus, der obenauf lag. Würde er wirklich schlafen können? Würde er die Augen schließen können in einem Haus, das vollständig in der Hand der Kohärenz war?
Und selbst wenn – was würde morgen sein?
Würde er morgen noch
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