Kohärenz 02 - Hide*Out
– deswegen muss man überall riesige Werbeplakate aufstellen, um die Leute zu hypnotisieren, damit sie denken, sie benötigen all diese Dinge. Über meine Ahnen wird in den Schulen der Weißen erzählt, dass sie ihre Feinde skalpiert haben, und das wird als grausam bezeichnet. Der weiße Mann dagegen hat mit seiner Intelligenz Bomben erfunden, die er aus Flugzeugen abwirft, Bomben, die ganze Städte in Schutt und Asche legen – ist das etwa nicht grausam? Ist es nicht viel grausamer, solche Massaker per Knopfdruck zu begehen, anstatt sich einem ehrlichen Kampf Mann gegen Mann zu stellen?« Er lehnte sich zurück. »Ein Mann muss klug sein, natürlich. Und wenn er lange genug lebt, wird er vielleicht irgendwann weise. Aber Klugheit, das ist etwas anderes als das, was ihr Intelligenz nennt. Klugheit sitzt im ganzen Körper. Klugheit muss auch das eigene Herz kennen, muss mit der Kraft des eigenen Körpers vertraut sein. Intelligenz dagegen sitzt nur im Kopf. Sie ist wie ein Fieber. Eine Krankheit.«
Christopher war wie erschlagen von dieser Ansprache. Noch nie hatte er den schweigsamen jungen Indianer vom Stamm der Piegan-Blackfeet so viel reden hören; erst recht nicht am Stück.
Und er konnte ihm nicht mal widersprechen! Er hatte sich das nie zuvor so überlegt, aber tatsächlich war es, wenn er nun zurückdachte, schon immer so gewesen, dass er das Gefühl gehabt hatte, sich bremsen zu müssen in dem, was er tat. Dass er immer die Sorge gehabt hatte, er könnte sich völlig verlieren in der Welt der Computer und Netzwerke, wenn er nicht die Kontrolle über sich behielt. Wie oft hatte er sich regelrecht betrunken gefühlt nach seinen stundenlangen Ausflügen in den Cyberspace! Klar, es war nicht wirklich gesund, acht, zehn oder fünfzehn Stunden ohne Unterbrechung an einem Computer zu sitzen, völlig angespannt, alles um sich herum vergessend, auch den eigenen Körper, nicht zu merken, dass man Hunger hatte, fror oder schwitzte… Der einzige Interrupt, der auch in der heftigsten Session noch gegriffen hatte, war der, aufs Klo zu müssen. Selbst das hatte er nicht selten aufgeschoben, bis es wirklich nicht mehr ging. Und wenn er schließlich die Tastatur losgelassen hatte und aufgestanden war, hatte er sich oft benommen gefühlt, war mehr getorkelt als geradeaus gelaufen.
Er hatte das bisher nur nie als Problem betrachtet. Er kannte es nicht anders; die Idee, dass man auch anders leben könnte, war ihm nicht gekommen.
Fieber im Kopf? Ja, das kannte er. Dass sein Geist brannte, während der Körper zu verkümmern drohte.
»Darüber muss ich nachdenken«, erklärte er.
Worauf George etwas tat, was er noch nie getan hatte: Er lachte. »Siehst du?«, sagte er dann. »Genau das meine ich.«
51 | Kyle hatte es eilig. Das war umso irritierender, weil er sonst nie Eile an den Tag legte. Serenity hatte ihren Bruder immer als den Inbegriff des coolen Typen gesehen, der sich niemals hetzen ließ. Aber heute war er es, der sie alle hetzte. Er weigerte sich, Rast zu machen, wurde unleidig, wenn jemand pinkeln musste, und raste auch mal über eine Ampel, die gerade rot wurde. Obwohl das völlig unsinnig war, denn danach musste er an den Straßenrand fahren und warten, bis George und Christopher aufholten.
Irgendwann wollte niemand mehr aufs Klo, wollte jeder nur noch, dass sie endlich ankamen und diese anstrengende Fahrerei ein Ende hatte.
Madonnas Lied kam immer öfter im Radio. Die ganze Welt schien von nichts anderem mehr zu reden. Leute riefen bei Sendern an und ergingen sich in Mutmaßungen darüber, was es mit dem Verschwinden der Sängerin auf sich habe, behaupteten, sie zu kennen, oder gar, es selber zu sein. Was Madonna fassungslos kichern ließ.
Anfangs war sie noch jedes Mal begeistert gewesen, hatte »Mein Lied! Mein Lied!« gerufen, hatte mitgesungen. Irgendwann hatte die Begeisterung aber nachgelassen. Sie hatte nur noch die Augenbrauen gehoben, bald gar nicht mehr reagiert und schließlich hatte sie Kyle gebeten, das Radio auszuschalten. Was Kyle nur widerwillig getan hatte. »Für Verkehrsnachrichten wäre es schon wichtig«, hatte er gemeint.
»Es nervt aber allmählich«, hatte Madonna gefaucht.
»Ich wäre eben gern bald da«, hatte Kyle eingewandt. »Möglichst ohne Stau und ohne Baustellen unterwegs.«
»Bitte.«
Da hatte er nachgegeben und seither herrschte Ruhe.
Die Strecke zog sich. Und irgendwie sah hier in der Gegend alles gleich aus. Zwischendurch fragte sich Serenity, ob sie womöglich
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