Kohärenz 02 - Hide*Out
dem Internet zu löschen. Dass sie es nur deshalb nicht getan hatte, weil dann ihre Cousine, die sich so viel Mühe mit dem Schnitt gegeben hatte, sauer gewesen wäre. Und so weiter.
»Sag mal«, fragte Kyle irgendwann, »möchtest du vielleicht einen Kaffee?«
Christopher brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er gemeint war. »Ich mag keinen Kaffee.«
»Was anderes, was wach hält? Eine Cola?«
»Ja. Cola wäre gut.«
Er bekam die letzte Dose aus dem Proviant. Später hielten sie und Kyle besorgte mehr davon. Tankte. Alle vertraten sich die Beine, weil es guttat, sich mal die Beine zu vertreten. Und das Ding in seinem Schädel pulsierte, wehrte sich gegen seine Kontrolle, lauerte auf den Moment, in dem er nicht mehr aufpasste, einnickte, einschlief.
Wieso ließ er nicht einfach los? Ließ es einfach geschehen? Am Ende würde ihn die Kohärenz ja doch kriegen, also warum es hinauszögern?
Wieder eine dieser Tankstellen… Wie viele gab es von denen eigentlich in diesem ganzen verdammten Amerika? Milliarden, so kam es ihm vor. Und alle sahen sie gleich aus. Gleich hässlich. George hatte recht. Der weiße Mann hatte das Land hässlich gemacht. Überall, wo etwas hingebaut worden war, drehte sich einem der Magen um, wenn man sich umschaute und vorzustellen versuchte, wie die Gegend davor ausgesehen haben mochte.
Wach bleiben. Widerstand leisten.
Aber es wurde zu viel, zu viel, zu viel…
Kyle tankte immer noch. Die anderen standen herum, beugten halbherzig die Knie, dehnten sich. Christopher stand abseits, sah in die Dunkelheit und überlegte, einfach da hinauszugehen, im Dunkeln zu verschwinden, sie alleine weiterfahren zu lassen. Sich dann irgendwohin zu setzen und den Widerstand aufzugeben, nicht länger standzuhalten. Ein letztes Mal einzuschlafen als Christopher Kidd und aufzuwachen als Teil der Kohärenz.
Wieder mächtig zu sein! Allwissend, gigantisch, glühend, intelligent wie eine Supernova… und scheiß auf die ganze Individualität. Wer war schon Christopher Kidd? Ein bleicher, schlaksiger Freak, den Mädchen nicht mal ansahen, es sei denn, er konnte ihnen zufällig zu fünf Minuten Ruhm verhelfen. Und zu Recht, dachte er, als er sich in einem der nachtdunklen Fenster der Tankstelle gespiegelt sah, eine merkwürdige, schiefe Gestalt im fahlen Licht der Neonbeleuchtung. Wenn er ein Mädchen gewesen wäre, er hätte sich selbst auch links liegen gelassen.
Bester Hacker der Welt. Drauf geschissen.
Das alles konnte er hinter sich lassen. Das war das Verlockende. Er konnte es einfach hinter sich lassen, ohne Mühe, ohne Umstände, ohne Arbeit, ohne Anstrengung. Er brauchte einfach nur den Chip aus seiner Kontrolle zu entlassen und abzuwarten. Der schwarze Strudel würde zurückkommen und ihn wegsaugen, ihn davontragen in das übermenschliche Reich der Kohärenz, das die ganze Welt umspannte und das eines Tages alle Menschen umfassen würde. Ein Reich, in dem die Sonne niemals unterging.
Eine Sache von einer Sekunde. Er musste sich nur entscheiden, es zu tun.
Und warum nicht? Was hatte er davon, sich zu wehren? Schmerzen. Anstrengung. Ein einsamer Kampf, den er kämpfte – wofür?
Was hatte er eigentlich damals so schlecht, so abstoßend, so widernatürlich daran gefunden, Teil der Kohärenz zu sein? Was hatte ihm Angst gemacht? Er wusste es nicht mehr.
Das ließ sich alles wiedergutmachen. Er musste sich nur entscheiden, es zu tun…
»Christopher?«
Er drehte sich um. Das war Serenity.
»Kommst du?«, rief sie. »Wir fahren weiter.«
Ihre sandbraunen Haare glänzten im Licht eines der Scheinwerfer, die die Zapfsäulen anstrahlten. Bleich war sie. Sie wirkte müde. Und einsam.
»Ja«, sagte Christopher und setzte sich in Bewegung. »Ich komme.«
Cola half. Mehr Cola half noch besser. Bald war die ganze Packung weg und ihm war ein bisschen seltsam zumute. Wach konnte man das nicht nennen. »Vielleicht sollte ich doch mal einen Kaffee probieren«, sagte er irgendwann.
Serenity war gerade dabei zu erzählen, was sie als Kinder im Wald erlebt hatten.
»Kaffee«, wiederholte Kyle. »Machen wir doch glatt.«
Ein paar Kilometer weiter kam ein Drive-through. Eine strohblonde Frau, die hellwach wirkte, reichte Kyle ein Plastiktablett mit sechs verschiedenen Kaffeebechern, das dieser an Christopher weitergab. »Hier. Probier dich durch.«
Puh. Wie das schon roch! Christopher entschied sich zunächst für den kleinsten Becher, nahm den Deckel ab, nippte daran. Bitter!
Egal. Runter
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