Kohärenz 02 - Hide*Out
bewegten sie sich im Gebiet eines Senders, der nur Oldies brachte. Der Sprecher erzählte aus dem Leben verschiedener altgedienter oder schon verstorbener Country-Sänger, von denen Serenity noch nie gehört hatte, und irgendwie war es tröstlich, diese Lebensgeschichten zu hören, in denen Geldnöte, Krankheiten, tragische Liebesaffären und betrügerische Plattenproduzenten eine große Rolle spielten: Früher hatten es Künstler also auch schon nicht leicht gehabt.
Abends passierten sie Spokane und zelteten schließlich an einem der Seen an der Interstate-90. Kurz vor dem Einschlafen gestand Madonna flüsternd: »Vorgestern, als wir an dem See mit den vielen Mücken gezeltet haben – da wollte ich in der Nacht heimlich abhauen.«
»Was?« Serenity war mit einem Mal hellwach.
»Ja. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich muss sofort nach Seattle, um jeden Preis. Ich hab mitten in der Nacht meine Tasche gepackt und bin zum Wagen. Aber George hat gemerkt, was ich vorhatte – wie immer halt –, und er hat mich davon abgehalten.«
Serenity war perplex. Darum also war es bei dem Streit am frühen Morgen gegangen, den sie mitgekriegt hatte!
»Und jetzt? Jetzt sind George und Christopher abgehauen und wir sind doch noch unterwegs nach Seattle«, fuhr Madonna leise fort. »Ist das nicht seltsam, was im Leben manchmal passiert?«
Serenity räusperte sich. »Du hättest uns einfach zurückgelassen?«
»Ich hab gedacht, das ist meine Chance; wenn ich die nicht nutze, krieg ich keine zweite«, wisperte Madonnas Stimme in der Dunkelheit. »Ihr hättet ja alles gehabt, was ihr braucht. Vier Leute, die passen in einen Wagen; ihr hättet beide Zelte gehabt und so weiter… Ich wollte nur das Auto. Ich wollte nur nach Seattle.«
»Deswegen hat George am Morgen darauf bestanden zu fahren«, erkannte Serenity. »Er hat Angst gehabt, du haust doch noch ab.«
»Ich hab ihn angebettelt, er soll mich wenigstens zu einer Busstation bringen, aber das wollte er auch nicht.«
Serenity ächzte. »Du hättest mich wenigstens einweihen können. Vielleicht wär ich ja mitgekommen.«
»Du?« Madonna lachte leise und wehmütig. »Du doch nicht. Um nichts in der Welt hättest du Christopher zurückgelassen.«
»Christopher?« Gut, dass es dunkel war. Serenity war sich nicht sicher, ob sie womöglich gerade rot wurde. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ach, tu nicht so«, meinte Madonna schläfrig und drehte sich raschelnd zur Seite. »Das sieht doch ein Blinder…« Gleich darauf zeugten gleichmäßige Atemgeräusche davon, dass sie eingeschlafen war.
Serenity aber lag noch lange wach.
69 | Die erste halbe Stunde tippte Christopher einfach drauflos. Wie ein junger Hund, der zu lange eingesperrt gewesen war und sich austoben musste, stürzte er hinaus in die Weiten des Internets, surfte ziellos umher, klapperte altbekannte Punkte ab, um gleich wieder weiterzuspringen ins Unbekannte, aufs Geratewohl.
Irgendwann hielt er inne, mit schmerzenden Fingerspitzen, erschöpft und ratlos. Irgendwo lachte jemand und man hörte immer wieder seltsame, dumpfe Schläge, als hacke jemand Holz.
Christopher betrachtete den Rechner. Irgendwie war er enttäuscht. Wieder einmal. Seit er Teil der Kohärenz gewesen war, seit ihm Gedanken genügt hatten, die Welt zu umrunden, sich in fremde Köpfe, fremde Rechner, fremde Netze hineinzubeamen, war es nicht mehr dasselbe, es mit Fingern und Tasten zu tun und alles nur durch einen Bildschirm zu sehen. Die Kohärenz war eine Erfahrung, die ihn für das normale Leben eines Hackers verdorben hatte.
Seither fühlte es sich an wie Arbeit.
Was er sich ja eigentlich auch vorgenommen hatte: zu arbeiten. Bloß war es so, dass sein Plan wieder einmal die Hilfe des Pentabyte-Man erforderte. Und der war wieder einmal offline.
Das wurde allmählich zur schlechten Gewohnheit.
Computer*Kid ruft Pentabyte-Man. Die Zeile stand unbeantwortet, seit Christopher am Computer saß. Der Cursor im Message-Feld blinkte reglos. Was jetzt?
Er starrte die Regale an der Wand vor sich an, all die Ordner, auf deren Rücken »Rechnungen« stand, »Projekte A-L« oder »Steuern«. Ein angenehmer Duft nach Holz erfüllte den Raum. Hinter der Wand mit den Ordnern ertönten wieder diese seltsamen Geräusche. Klack, klack, klack. Irgendjemand johlte ausgelassen.
Was trieben die da in dem Aufenthaltsraum? Christopher starrte auf den Bildschirm, lauschte den rätselhaften Lauten und konnte sich keinen Reim darauf machen, was da vor sich
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