Kohl, Walter
Illustration eines »Morgensterns« -
einer mittelalterlichen Waffe, mit der sich ein Ritter seine Gegner vom Leibe
hielt. Heimlich baute ich sie mit einfachsten Mitteln nach. Benutzt habe ich
sie nie, aber es war doch ein beruhigendes Gefühl, immer einen handlichen
Knüppel im Ranzen mit sich zu führen, in dessen verdickte Spitze scharfe Nägel
eingeschlagen waren.
Ein Preisschild auf meinem Leben
So sehr ich mich über die mit dem neuen Zuhause verbundenen
Verbesserungen meiner persönlichen Lebenssituation gefreut hatte, so sehr betrübte
es mich anschließend, dass die politische Großwetterlage es zunehmend
erschwerte, sie auch wirklich zu genießen. In den 1970er-Jahren wurde die Bundesrepublik
zum Schauplatz einer neuartigen Form politischer Gewalt: Die Terroristen
setzten bei ihren Anschlägen konsequent auf die Macht der Massenmedien, um den
fehlenden Rückhalt in der Bevölkerung durch die Publikumswirksamkeit ihrer
Aktionen wettzumachen. Das ließ aus ihrer Sicht auch die engsten Angehörigen
der politischen Entscheidungsträger zu »interessanten Zielen« werden, zumal
Erpressung eine der Waffen war, mit denen die RAF ihre Forderungen durchzusetzen
trachtete. Wie nicht anders zu erwarten, wurde unsere gesamte Familie in die
höchste Gefährdungsstufe eingeordnet und ein immer enger geknüpftes
Sicherheitsnetz um uns herum aufgebaut.
Der
Wohnwagen mit der Antenne war mit nach Oggersheim verpflanzt worden, schon am
Tag unseres Einzugs stand er wiederum auf einem unbebauten Nachbargrundstück,
ein Dejá-Vu, das mir ein seltsames Gefühl bescherte. Das schlichte Gefährt
entsprach jedoch schon nicht mehr den Vorstellungen der Sicherheitsbehörden,
die nun mit deutscher Gründlichkeit ans Werk gingen. Es dauerte nicht lange,
und vor unserem Haus, zur Straße hin, wurde ein Holzhäuschen errichtet, von dem
aus jetzt die zu unserem Schutz abgestellten polizeilichen Einsatzkräfte
befehligt wurden. Aber auch das reichte irgendwann nicht mehr. Die Endstufe des
Ausbaus bildete ein massives, zweistöckiges Gebäude mit schussfesten Scheiben.
Es war rund um die Uhr besetzt. Dort befanden sich die Überwachungsmonitore für
die zahlreichen Kameras, die rund um unser Wohnhaus installiert wurden, sowie
das Kommunikationszentrum für den Funk der Einsatzkräfte. Diese Leitstelle
fungierte im Polizeijargon als »Sonderwache Marbacher Straße«. Sie steht,
nebenbei erwähnt, noch immer: in ihrer heutigen Funktionslosigkeit ein
befremdliches Stück Geschichte aus einer traurigen Zeit.
Wer oder
was auch immer sich unserem Haus näherte, durchschritt mehrere Ringe eines
Sicherheitskordons, der um uns herum gelegt wurde, wie die Schalen einer
Zwiebel. Ganz außen, in über einem Kilometer Entfernung, verlief die erste
Verteidigungslinie, denn aus unmittelbarer Nähe der bereits erwähnten
Umgehungsstraße hätten Scharfschützen freies Schussfeld auf unser Grundstück
gehabt. Auf jener Straße wurde mit hoher Taktfrequenz Streife gefahren. Der
nächste Ring wurde einige Hundert Meter weiter innen etabliert, entlang der
Weimarer Straße und der an die Marbacher Straße angrenzenden Wege. Dort liefen
Doppelstreifen mit Maschinenpistolen, und es waren permanent Streifenwagen
postiert, in Krisenzeiten konnten es durchaus mehr als ein halbes Dutzend
sein. Je näher man unserem Haus kam, umso enger wurde das Sicherheitsnetz.
Unmittelbar um uns herum wurde alles aufgefahren, was die Sicherheitstechnik
der damaligen Zeit zu bieten hatte: Videokameras, Bewegungsmelder, Infrarotgeräte.
Unsere gesamte Post wurde in einer speziellen bombensicheren Kammer
untersucht, von der Stromrechnung bis zum Weihnachtspaket. Die Terroristen
mochten clever und zu allem entschlossen sein, aber der Staat lernte schnell
dazu, und gründlich war er sowieso. Als Kind wurde ich zum Zeugen einer
regelrechten sicherheitstechnischen Aufrüstung in meinem unmittelbaren Umfeld.
Mutter
hatte 1971 das Haus so geplant, dass es uns eine gemütliche Heimat bieten
konnte. Nun musste es zu einer Art Wohnfestung umgerüstet werden. Zur
Gartenseite hin wurde eine über fünf Meter hohe Mauer errichtet. Doch dies war
immer noch nicht hoch genug, um uns gegen einen Schusswaffenangriff mit
Zielfernrohr von dem etwa 200 Meter entfernten Weihergelände oder einem
Raketenangriff vom rund 800 Meter entfernten Autobahndamm abzusichern - also
wurden auf der Mauerkrone nochmals etwa drei Meter hohe Panzerglasscheiben
eingelassen. Mutter war unglücklich über diese
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