Kohl, Walter
jenen, mit denen ich Tag für Tag
zusammen war. Einen Durchbruch brachte eine Klassenfahrt an die Nordsee nach
Sankt Peter-Ording in der neunten Klasse. Knapp zwei Wochen lang - für mich war
es das erste Mal, dass ich mit meinen Klassenkameraden länger als nur einen
Vormittag ununterbrochen zusammen war. Und das ohne Polizeieskorte! Ich erfuhr
eine Form von Freiheit, die ich vorher nie erlebt und um die ich meine
Schulkameraden immer so sehr beneidet hatte.
Im Landschulheim
schliefen wir in einem Raum, 25 Jungen, oben unter dem Dach. Er mutierte
innerhalb kürzester Zeit in eine Gemengelage aus Saustall und Erdbebenzone. Mit
einem Wort: Wir fühlten uns pudelwohl. Nach knapp zwei Tagen kapitulierte unser
Lehrer vor so viel überbordender Lebensfreude. Wir lebten in den Tag hinein,
spielten Fußball, tobten am Meer, erste Zigaretten wurden heimlich gekauft. Ich
bestand meine Mutprobe, indem ich Bier von einem nahe gelegenen Kiosk
besorgte. Wir hockten zusammen, redeten ohne Ende miteinander, bis tief in die
Nacht hinein. Und dann geschah etwas, das aus einer vorübergehenden Befreiung
eine unumkehrbare Entwicklung machte.
Wir
spielten Fußball, da kamen ein paar Jungen aus einer höheren Klasse unserer
Schule, die ebenfalls im Landschulheim weilte. Einer von ihnen nahm mir
einfach den Ball weg. Ich war perplex. Bevor ich mich für die eine oder andere
Reaktion entscheiden konnte, waren schon meine Klassenkameraden herbeigeeilt.
Ein Wortgefecht entbrannte. Wir waren kleiner, aber in der Überzahl. Die Älteren
hatten wohl nicht damit gerechnet, dass sich irgendjemand mit mir solidarisieren
würde. Sie hatten es klar darauf abgesehen, mir eine Lektion zu erteilen. Doch
sie hatten sich verkalkuliert.
»Lasst den Walter in Ruhe!«
Erst rief
es einer von uns, der Größte und Stärkste, dann aber mehrere, und schließlich
schrien sie es alle durcheinander:
»Lasst den Walter in Ruhe!«
Es war
einer dieser magischen Momente, in denen ein ganzes Leben vom Kopf auf die Füße
gestellt wird. Ich hielt den Fußball in Händen und konnte es nicht glauben. Es
war eine Demonstration! Eine Ungeheuerlichkeit! Ein echter Wendepunkt, wie
sich zeigen sollte. Auf einmal war ich nicht mehr der »Sohn vom Kohl«, sondern
»der Walter«.
Für den
Rest des Aufenthalts war ich voll integriert. Es war wie ein Bad in wohligen
Gefühlen. Irgendwann ist jede Reise zu Ende, und man kehrt in den Alltag
zurück, doch etwas blieb hängen. Für die meisten meiner Mitschüler blieb ich
zwar »der Kohl«, für einige allerdings war ich »der Walter« geworden. Sie
mochten mich, weil ich so war, wie ich war. Das war völlig neu und sehr
beglückend für mich.
Wo schon
etwas ist, da kommt leicht auch noch mehr hinzu - so einfach ist das. Oder so
kompliziert, solange noch kein Anfang gemacht ist. Jetzt aber hatte ich endlich
ein »Standing«, neuhochdeutsch gesagt, und der Boden unter meinen Füßen wurde
fester und belastbarer. Ein Freundeskreis entwickelte sich, ich nannte ihn die
»Mannschaft«. Sie wurde mir zu einer Art Ersatzfamilie, fast zehn Jahre lang
war das so. Oberstufe, Bundeswehr, die ersten Studienjahre, das waren die Jahre
der »Mannschaft«.
Endlich,
endlich war ich dort angekommen, wo ich mich jahrelang hingesehnt hatte. Wir
machten all das, was Jugendliche, die versuchen, erwachsen zu werden, eben so
machen. Wir feierten zusammen, frisierten Mopeds, belagerten die Baggerseen im
Ludwigshafener Süden, fuhren gemeinsam in die Ferien. Unvergesslich unsere
große Radtour im Alter von 16 Jahren von Ludwigshafen über Brüssel, Rotterdam
nach Amsterdam. Mehr als 1500 km allein, welch ein Abenteuer! Ich muss heute
noch schmunzeln, wenn ich zurückdenke, wie ausdauernd und hartnäckig ich meine
Eltern bearbeitete, dass ich fahren durfte. Sie schienen verstanden zu haben,
dass ich viel nachzuholen hatte, und obwohl meine Mutter aus nachvollziehbaren
Gründen immer noch Angst um mich hatte, stimmte sie doch zu. Nur zu gern
erinnere ich mich an Interrailfahrten nach Frankreich, England und Schottland,
an unsere VW-Bus-Touren nach Südfrankreich. Oft wurde im Wald gezeltet, es war
immer etwas los. Wir hatten unsere festen Kneipen, wir waren eine wirkliche
Gemeinschaft.
Mein Leben
hatte nun vorübergehend ein festes Format. Ich lebte immer noch wie in einer
Burg. Aber ich war nicht mehr allein, denn meine Freunde und meine Familie
lebten mit mir in der »Burg«. Bei ihnen war mein Sanktuarium, meine Heimat. In
ihrer Mitte fühlte ich mich
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