Kohl, Walter
die optimale
Gelegenheit, um einmal ins politische Milieu hineinzuschnuppern. Vater
organisierte mir einen Job als Helfer des Organisationsstabes. Wir waren eine
Truppe von Schülern, die Stühle aufstellte, die Tagungsräume in Ordnung hielt,
Infoblätter auf die Plätze der Delegierten legte, für Nachschub an
Erfrischungsgetränken sorgte und zur Übernahme von Botengängen bereitstand. Ich
trug kein Namensschild, und da ich während der ganzen Zeit keine fünf Minuten
mit meinem Vater sprach, erkannte mich fast niemand. So gelang, was ich mir
vorgenommen hatte: mich mit offenen Augen und Ohren inmitten des Geschehens zu
bewegen und so viel wie möglich in mich aufzunehmen. Es wurden spannende und
aufschlussreiche Tage.
Erstmals
konnte ich meinen Vater live bei der Arbeit erleben, und zwar nicht nur als
Redner, sondern auch in Momenten, da er nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit
stand und hinter den Kulissen wirkte. Er verblüffte mich. Denn hier gab er sich
im Prinzip so, wie er auch sonst war - Helmut Kohl im Kreise seiner
Parteifreunde schien eins zu eins derselbe Mann zu sein wie daheim. Am
Rednerpult konnte er äußerst temperamentvoll werden, im kleinen Kreis
beherrschte er durch seine souveräne Ruhe die Situation. Es war ihm gegeben, allein
durch die Modulierung seiner kraftvollen Stimme Autorität auszuüben. Oft
genügte ein leicht amüsierter Unterton, um den Gesprächspartner zu
verunsichern. Dabei blieb er körperlich völlig entspannt, mit sich selbst
offenbar im Reinen. Er genoss das politische Spiel sichtlich, das war sein
Ding, er schwamm in diesem Teich wie ein Fisch im Wasser. Manches verstand ich
noch nicht so richtig, konnte seine Wirkung aber auf der Empfindungsebene
durchaus nachvollziehen. Beispielsweise, dass er gleichzeitig Jovialität und
Unnahbarkeit ausstrahlen konnte, eine rein äußerliche Ambivalenz, die er
selbst dann durchhielt, wenn er die unter Politikern typische
Verbrüderungsumarmung vollzog. Auch wusste er seine Achtung gebietende
körperliche Statur geschickt für seine Zwecke einzusetzen. Wenn mein Vater die
Schwelle übertrat, schien der gesamte Raum durch seine schiere Präsenz
gefüllt.
Mit einer
Mischung aus Verwunderung und dunkler Faszination verfolgte ich die intensive
Arbeit »am offenen Herzen der Partei« in den Hinterzimmern des
Kongressgebäudes. Während ich den Nachschub und die Entsorgung von Zigaretten
und Aschenbechern, von Getränken und Snacks mit in Gang hielt, bekam ich von
den eigentlichen Themen natürlich nur bruchstückhaft etwas mit. Mehr war für
meine Zwecke aber gar nicht nötig. Was ich sehr wohl mitbekam und in seiner
elementaren Wichtigkeit durchaus verstand, war der Kampf unter den
Parteigrößen, die Liebedienerei ihrer Hofschranzen und das Schachern um
»Ergebnisse« in all den Vier-, Sechs- und Achtaugengesprächen.
Durch
meine Beobachtungen auf dem Parteitag erlebte ich Macht und Politik zum ersten
Mal live. Jetzt erst entwickelte sich in mir eine konkrete Vorstellung über die
Arbeitswelt meines Vaters und mir wurde schon nach diesen wenigen Tagen klar:
Das wird ganz
bestimmt nicht meine Welt.
Neben der
willkommenen Aufbesserung meines Taschengeldes war der eigentliche Gewinn
meiner Hiwi-Tätigkeit auf dem Parteitag also ein wichtiger Schritt in Richtung
Selbstklärung. Ich beschloss, keiner Partei beizutreten und mich von politischer
Aktivität fernzuhalten, was ich bis heute beibehalten habe. Wenige Tage später
erklärte ich dies meiner Mutter, die mich darin bestärkte, meiner inneren
Stimme zu folgen. Dabei äußerte sie etwas, an das ich mich noch sehr genau
erinnere und das ich für sehr wichtig halte, wenn es um die Frage geht, welche
Richtung ein junger Mensch beruflich einschlagen soll: »Mach dir nichts draus,
wenn du heute noch nicht weißt, was du einmal werden willst. Es ist ganz
normal, wenn du zuallererst herausfinden musst, was du nicht willst.
Das Leben wird schon dafür sorgen, dass du deinen Weg findest.«
Dabei sah
sie mich mit einem amüsierten Blick an, der mir verriet, wer gegebenenfalls
dafür sorgen würde, dass ich meine Chance auch nutzte. Und sie vertraute mir
an, warum sie selbst CDU-Mitglied war: schlicht und einfach deshalb, weil sie
die Frau Helmut Kohls war. Irgendwann hatte er sie darum gebeten, und ihr
erschien es als reine Notwendigkeit, aber sie unternahm nicht den leisesten
Versuch, die Verpflichtung an mich weiterzureichen.
Ich wollte
unter Menschen sein, wollte »dazugehören« zu
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