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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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war endlich
wieder einmal ein Mensch, den kennenzulernen sich wohl lohnte, weil er mich
ernst nahm und fast wie mit einem Erwachsenen zu mir sprach. Wir unterhielten
uns über die unterschiedlichsten Themen. Es war ein sehr schönes Gespräch, wie
ich es mir öfter gewünscht hätte, ein Gespräch wie mit einem väterlichen
Freund, obwohl wir uns doch gerade erst kennengelernt hatten.
    So nahm
ich all meinen Mut zusammen. Ich brauchte endlich einmal jemanden, dem ich
mein Herz ausschütten konnte, und klagte ihm mein Leid: die ständige
Bewachung, die Isolation von meinen Schulkameraden, die ständige Erwartung, es
könnte irgendetwas passieren. Ich fragte ihn, ob auch er Angst vor den
Terroristen hätte. Er sah mich lange nachdenklich an. Das Lächeln war aus
seinem Gesicht gewichen, die Augen schienen traurig, aber er sah mich mit einem
festen Blick an.
    »Es ist
völlig normal, Angst zu haben. Mut zu beweisen heißt nicht, keine Angst zu
haben, sondern sich von seiner Angst nicht unterkriegen zu lassen.«
    Damit kann ich etwas
anfangen. Ich werde darüber nachdenken.
    »Und
außerdem«, fuhr er fort, wie um mir Mut zu machen, nun erneut mit diesem großen
Lächeln, »und außerdem besteht nur eine sehr kleine Gefahr, wirklich von
Terroristen entführt zu werden. Deshalb habe ich selbst eigentlich gar keine
Angst.«
    Ob er es
ernst meinte oder ob er ein vierzehnjähriges Kind einfach nur beruhigen wollte,
spielt für mich keine Rolle. Damals berührte mich das sehr. Ich hatte einen
großen Nachholbedarf an Aussprache, und ich war ihm sehr dankbar für die
Gelegenheit. Es kam in diesem Moment so viel hoch, dass ich nicht anders
konnte, als meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ich glaubte seinen Worten, sie
gaben mir Kraft.
    Wenn er
schon keine Angst hat, dann brauchst du auch keine Angst zu haben.
    Wir
unterhielten uns noch eine kleine Weile. Schließlich betrat mein Vater den
Raum. Wie eingebrannt in mein Gedächtnis ist das Bild von Herrn Schleyer, wie
er mir ein letztes Mal zulächelte, bevor das Thema gewechselt wurde. Ich sollte
ihn nie wiedersehen, außer auf dem furchtbaren Bild des Gefangenen der RAF das
kurz darauf die ganze Welt zu Gesicht bekam.
    Ich war
wie betäubt. Der Mann, der mir Sicherheit und Hoffnung gegeben hatte, war
selbst zum Opfer geworden. Die Gewalttaten der Terroristen hatten auch in
meinem Dasein tiefe Spuren hinterlassen, die konkrete Erfahrung tödlicher
Bedrohung meiner eigenen Person aber war mir glücklicherweise erspart
geblieben. »Terror« hatte für mich die Unterwerfung meines Alltags unter ein
zunehmend strenges Sicherheitsregiment bedeutet. Das wurde nun anders. Dies
war kein Krieg anderer Leute mehr, denn unmittelbar neben mir hatte es einen
Einschlag gegeben. Ich fühlte mich als unmittelbar Beteiligter. Atemlos
verfolgte ich jedes Detail der Berichterstattung im Fernsehen und in der
Zeitung. Die Entführung und der spätere Mord an diesem Mann, der so offen und
ehrlich mit mir gesprochen hatte, erschütterten mich zutiefst. Er hatte mir
gesagt, dass ich keine Angst haben müsse. Ich hatte ihm geglaubt, er war für
mich eine Autorität. Nun war er selber tot. Das war schwer zu verkraften. Mehr
denn je verstand ich, dass auch ich im Falle einer Entführung wenig Hoffnung
auf ein Überleben haben würde. Die Kidnapper würden sich nicht damit begnügen,
Geld zu fordern. Das beschafften sie sich, wie auch ich schon wusste, durch
Raubzüge in Banken und Sparkassen. Nein, sie würden politische Austauschforderungen
stellen. Und das war zugleich das Todesurteil für die Geisel.
    Nun schien
es überhaupt niemanden mehr zu geben, mit dem ich mich hätte aussprechen
können. Die Erkenntnis war ein weiterer Schritt zur gefühlten Nichtigkeit
meiner selbst. Ich lebte in zwei parallelen Welten gleichzeitig. Äußerlich
absolvierte ich einen Alltag, in dem ich so gut wie nie für mich selbst sein
konnte. Innerlich befand ich mich dagegen in tiefer Isolation. Wenn ich mich in
mein Zimmer zurückzog, trat dieser Widerspruch besonders scharf zutage: Obwohl
ich allein war, fühlte ich mich beobachtet. Mich verfolgte das Gefühl,
Terroristen könnten mich durch ihr Zielfernrohr beobachten. Dass ich hinter
mehrere Zentimeter dickem Panzerglas lebte, schützte zwar mein nacktes Leben,
aber es zeigte doch nur, wie es um dieses Leben bestellt war: Sogar die innerste
Privatsphäre war von äußerster Gefährdung durchdrungen. Irgendwie schien mir
gar nichts mehr wirklich wichtig -
    Wenn man
noch

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