Kohl, Walter
das respektlos und
übertrieben sei. Es verunsicherte mich nur kurz. Denn es wurde mir klar, dass
mich diese Leute nie würden verstehen können und dass sie mich auf meinem
neuen Weg weder begleiten konnten noch wollten.
In diesen
Gesprächen reagierte ich immer zurückhaltender. Ich argumentierte nicht mehr,
ich bedeutete den Anrufern nur noch höflich: So ist es nun, und so wird es auch
bleiben. Ich dankte ihnen für ihre Unterstützung meines Vaters und ließ die
Gespräche im Sande verlaufen. Meine Gesprächspartner merkten wohl, dass ich
nicht mehr wie erwartet reagierte und zogen sich ihrerseits zurück. Heute sind
diese Gespräche tief in der Mottenkiste persönlicher Erinnerungen versunken,
das gilt für diese Menschen wahrscheinlich ebenso wie für mich. Jeder geht
seinen Weg. Für mich war es eine Zeit der inneren Klärung. Manchmal kam ich mir
vor wie beim Aufräumen eines alten, zugestaubten Dachbodens. So viele Dinge und
Erinnerungen hatten viele Jahre lang nutzlos herumgelegen, nun galt es, jeden
einzelnen Gegenstand anzufassen, ihn zu prüfen, ob er mich weiter begleiten
würde oder ob ich ihn entsorgen sollte. Mit der Zeit wurde der innere Dachboden
immer leerer, frische Luft strömte ein, kleine Häufchen bewahrenswerter
Vergangenheit erwarteten ihre erneute gedankliche Sichtung. Ich blickte nun
voraus in einen neuen Lebensraum, der freundlich wirkte und zur Neugestaltung
einlud, der meine Kreativität und meinen Lebensmut forderte.
Opferland?!
Opferland
- was ist das? Gibt es das Wort überhaupt? Etwas irritiert, mit kritischem
Blick schaut mich mein Lektor an. Wir sitzen gemeinsam über meinem Entwurf
dieses Kapitels, das für mich von zentraler Bedeutung ist und das ihm anscheinend
so wenig sagt. Vielleicht sollten wir das weglassen, damit verwirren Sie den
Leser, Herr Kohl - so sein erster Rat. Doch dem will ich jetzt ausnahmsweise
einmal nicht folgen, zu wichtig ist das, was ich zu diesem Thema sagen möchte.
Auch wenn es mir schwerfällt, es in gefällige Worte zu kleiden.
»Opferland«
ist für mich ein innerer Zustand der Selbstaufgabe. Man gibt sich selbst auf,
indem man sich in die Rolle eines Opfers begibt, sich darauf zurückzieht, wie
die Schildkröte sich in ihren Panzer verkriecht. »Opferland« ist natürlich
auf keiner einzigen Landkarte verzeichnet. Es hat keine Postleitzahl, man kann
dort nicht hinfahren - muss man auch nicht, denn es kommt zu einem. »Opferland«
kann überall sein. Es ist ein innerer Ort: ein Hort des Unfriedens und der
Knechtschaft, der Abhängigkeit, der Ohnmacht und der Fron. Vor jedes dieser
schlimmen Worte sollte man eigentlich immer ein »gefühlt« setzen. Denn
Opferland befindet sich letztlich immer nur in unserem Innern, ausschließlich.
Deshalb
hat Opferland auch offene Grenzen - völlig problemlos und formlos reist man
ein, oft sogar, ohne es überhaupt zu bemerken. In Momenten der Verzweiflung,
des Schmerzes und der Einsamkeit scheint Opferland das einzige Asyl zu sein,
das bedingungslos offensteht. Doch das täuscht. Für alle, die drinnen sind,
schließt Opferland seine Grenzen. Hinaus kommt man also längst nicht so leicht
wie hinein. Und wer einmal drin ist, bekommt die Regeln des Opferdaseins zu spüren:
die konsequente Abgabe der Kontrolle über das eigene Leben und das klare
Bekenntnis zum Opferstatus. Opferland ist ein Way of Life.
Auf eine
gewisse Weise ist das Leben in Opferland sehr bequem. Man wird immer
herumchauffiert. Das Steuer übernehmen hier entweder die Umstände oder andere
Menschen. Oder beide zusammen. Allerdings hat die Bequemlichkeit ihren Preis,
denn diese Chauffeure haben schlechte Ohren. Sie fahren eigentlich nie in die
Richtung, die man gern eingeschlagen hätte. So wird man Schritt für Schritt
zum Spielball der Umstände - oder anderer Menschen. Je tiefer man ins Opferland
hineinfährt, umso willenloser wird man. Schließlich fügt man sich in sein
Schicksal und macht es sich, so gut es eben geht, auf dem Beifahrersitz bequem.
Hat man
sich einmal mit den Gegebenheiten arrangiert, wird man durchaus empfänglich für
die Reize dieses Landes. Opferland überrascht beispielsweise mit einem angenehm
ausgeglichenen Klima, ohne eine große Schwankungsbreite in der gefühlten
Temperatur. Und man darf sich sicher vor unangenehmen Überraschungen fühlen, die
das Leben immer nur wieder auf den Kopf stellen. Alles ist in sich stimmig, die
Welt ist erklärbar, die Menschen berechenbar. Und wer sich gelegentlich
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