Kohl, Walter
seiner
Gefangenschaft bewusst wird und darüber zu klagen beginnt, darf sich des
Mitleids seiner Mitmenschen sicher sein. Dies ist nur an eine einzige Bedingung
geknüpft:
Man darf
andere Maßstäbe zulassen als die hier gültigen - am leichtesten schafft man
das, indem man alles durch die Brille eines Opfers sieht. Das hat den nicht von
der Hand zu weisenden Vorteil, dass man sich nicht um Auswege bemühen und
keine Verantwortung übernehmen muss. Schließlich sind ja alle Schuldfragen
geklärt: Immer sind es die anderen oder die Umstände, die für den eigenen
Schmerz und die Misere verantwortlich zeichnen. Ja, in Opferland hat man's
leicht, auch wenn man's schwer hat: Man sitzt einfach nur auf dem Beifahrersitz
und lässt sich als Zuschauer des eigenen Lebens durch den Alltag chauffteren
...
Lange
Jahre war ich ein vorbildlicher Bewohner von Opferland. Ich suchte Gerechtigkeit
dort, wo keine sein konnte, ich suchte Sinn dort, wo alles doch nur ein Spiel
der Umstände war. Vor allem verstrickte ich mich immer wieder in der Frage nach
dem Warum. Warum musste ich der »Sohn vom Kohl« sein? Warum konnte ich nicht
unbehelligt mein Leben führen wie andere Menschen? Warum, warum, warum ...?
Es kommt
dann einmal der Punkt, an dem die Erfahrungen der Vergangenheit die Erfahrung
der Gegenwart zu bestimmen beginnen. Das nenne ich die »Opferbrille«. Die
Sicht auf das Leben wird selektiv und einseitig. Und das zementiert den
Opferstatus immer wieder mit frischem Beton, denn jede neue Erfahrung bestätigt
die einmal eingenommene Sicht. So wird das ganze Leben zu einer Selffulfilling
prophecy, zu einem einzigen Teufelskreis aus schlechten Erfahrungen
der Vergangenheit und Antizipation schlechter Erfahrungen in der Zukunft, die
dann auch eintreten, weil man den gegenwärtigen Moment in seinen Möglichkeiten
und seiner Schönheit immer weniger wahrnimmt - ebenso wenig wie die Chancen,
die er bietet.
So kam es,
wie es kommen musste. Irgendwann verlor ich den Glauben an mich, an mein Glück,
an meine Fähigkeiten, an den Sinn meiner Existenz. Irgendwann begann ich mich
selbst zu demütigen und zu erniedrigen, indem ich mich mit sogenannten Siegern
zu vergleichen begann, mit Menschen, die genauso alt waren wie ich, die aber
offensichtlich so viel mehr in ihrem Leben erreicht hatten.
Ich
perfektionierte mein Opferland. Außen in der Welt war ich nur noch der »Sohn vom
Kohl«. Eine meiner Lieblingsredewendungen in diesen Jahren war, dass es völlig
egal ist, was ich tue, ob es gut und erfolgreich ist oder nicht. Denn wenn es
gut oder erfolgreich ist, dann habe ich es nur erreicht, weil ich der Sohn
meines Vaters bin, und wenn es schlecht gelaufen ist, dann ist es ja eindeutig,
dass der Sohn von Helmut Kohl genauso ein Loser sein muss wie sein Vater. Auch
hier amüsierte ich mich teilweise über das Phänomen, dass die Hälfte der Leute
meinen Vater teils begeistert wählten, während die andere Hälfte ihn dann
ebenso entschieden ablehnte.
Um das
Opferland verlassen zu können, ist es essenziell, sich dieser eigenen
Bitterkeit offen und ehrlich zuzuwenden, sie zuzulassen, sie anzunehmen.
Natürlich fühle ich dabei eine gewisse Scham und Peinlichkeit, aber ein
ehrlicher Blick in den eigenen inneren Spiegel ist nun mal nicht ohne Preis.
Deshalb schreibe ich diese Zeilen, die kein Ruhmesblatt meiner kleinen
persönlichen Geschichte sind, die aber den Kern der Herausforderung »Leben oder
gelebt werden« spiegeln. Bist du im Opferland, dann musst du es auch vor dir
selbst zugeben können, denn nur dann kannst du irgendwann aus dem Opferland
ausziehen.
Der Auszug
aus dem Opferland beginnt mit dieser inneren Prüfung: Schafft man es, die alte
Scham, die alten Muster zu überwinden und sich den alten Belastungen mit neuen
Perspektiven und neuem Denken zu nähern? In meinem konkreten Fall: Kann ich
mich an die Wurzel meines Walter-Opferlandes heranwagen, ohne in meine alten
Rituale zu verfallen, ohne mich selbst zu bemitleiden? Kann ich meinen Eltern
mit neuem Denken versöhnt begegnen?
Meine Eltern
Was Helmut (*1930) und Hannelore (*1933) von vornherein
verband, waren die typischen biografischen Bruchlinien ihrer Generation, für
sie beide markiert durch den Gegensatz zwischen einer behüteten Kindheit in
bürgerlichen Familien und der traumatischen Erfahrung der Kriegsjahre sowie,
als Jugendliche, der Mangelsituation im Nachkriegsdeutschland. Sie teilten
viele ähnlich geartete Erfahrungen, allerdings zogen sie daraus
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