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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Mitgefühl für ihn. Aber die Begegnung machte mir zugleich auch
große Angst.
    So nahm
ich all meinen Mut zusammen und fragte abends im Bett meine Mutter, ob wir auch
Angst vor einer Entführung haben müssten und ob wir dann auch so leiden
müssten wie Peter Lorenz und seine Familie. Ihre Antwort werde ich nie
vergessen, durch sie lernte ich ihr Denken und Fühlen in aller Deutlichkeit
kennen. Sie sagte sinngemäß:
    Diese
Entführung ist ganz schlimm und ein großes Unrecht. Aber der Krieg war noch
viel schlimmer.
    Ihre
Absicht war, mir zu vermitteln, dass ich mir keine Sorgen machen müsste. Aber
ihre eigene Prägung ließ sie Worte wählen, die mir vor allem eines deutlich
machten: Ich hatte mit meinen Ängsten allein fertig zu werden.
    Aushalten.
Durchhalten. Maul halten.
    Aus der
Sicht eines zwölfjährigen Kindes war das eine emotionale Bankrotterklärung.
Aus historischer, überpersönlicher Sicht war es verständlich. Immenses
persönliches Leid zwischen ihrem zehnten und siebzehnten Lebensjahr hatte meine
Mutter für immer geprägt. Was kann ein Mensch anderes an seine Kinder
weitergeben als das, was ihn selbst ausmacht? Die Schmerzskala meiner Mutter
war einfach und klar strukturiert. Ganz unten stand eine Jahreszahl: »1945«.
Das bedeutete schlimmstes Leiden, ganz und gar unerträgliche Zustände. Alles,
was nicht schlimmer war als »1945«, war »erträglich«. Es konnte und musste ertragen
werden, auch wenn es eigentlich nicht erträglich zu sein schien: Für sie war
das nur eine Frage der Disziplin. Und Disziplin bedeutete nichts weniger, als
bereit zu sein, seine eigenen Interessen und Gefühle hintanzustellen und - wenn
nötig - sich selbst aufzuopfern. Auch als sie schon lange in der Pfalz gelebt
hatte, blieb sie im Herzen doch die waschechte Preußin, ganz im Sinne ihrer
Mutter, einer bremischen Großbürgertochter wilhelminischer Prägung.
Pünktlichkeit, Disziplin, Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Opfermut: Die
klassischen preußischen Tugenden eben, sie bestimmten ihren Anspruch an sich
selbst und auch ihr pädagogisches Leitbild, das sie auf uns Kinder übertrug.
Als Frau empfand sie sich als Dienerin ihres Mannes, als Managerin aller Familienangelegenheiten:
Das war der Platz, an den das Leben sie gestellt hatte.
    Immer gab
es etwas zu tun, immer war sie in einem Zustand tätiger Unruhe, was so viele an
ihr bewunderten. Ich möchte sagen, es lag auch noch etwas anderes in dieser
permanenten Agilität: So blieb sie stets fluchtbereit. Sie rechnete innerlich
immer noch mit der Möglichkeit, »dass die Russen kommen«. In Oggersheim
verfügten wir über drei Kühlschränke und eine wohlgefüllte Speisekammer, plus
einen eigenen Kellerraum für Obst, Wurst, Wein und Kartoffeln. Es war immer für
alle Eventualitäten vorgesorgt, wir hätten jederzeit ohne weitere
Vorbereitungen eine mehrwöchige Belagerung überstanden, zumindest
lebensmitteltechnisch.
    Man weiß nie,
was passiert, und ob es morgen nicht doch wieder Krieg gibt.
    Ich lese
hier nicht die Gedanken meiner verstorbenen Mutter - dies ist ein Satz, den
ich als Kind tatsächlich oft gehört habe. Insbesondere in den spannungsreichen
Zeiten zwischen Ost und West, etwa während der Nachrüstungsdebatte und
angesichts der beginnenden Solidarnosc-Streiks in Danzig.
    Du kannst
alles verlieren, dein Haus, die Heimat, dein Geld, alles. Aber was du gelernt
hast, das kann dir niemand nehmen.
    Das war
ihr persönliches Credo und ein unerbittlich erteilter Auftrag an uns Kinder.
Sie war hinter unseren schulischen Leistungen her wie der Teufel hinter der
armen Seele. Für sie war es selbstverständlich, dass wir mehrere Sprachen
erlernten. Warum? Natürlich weil ein Flüchtling mehrere Sprachen benötigt, um
sich durchzuschlagen. Das war ihre eigene Erfahrung gewesen. Hatten ihre
Englischkenntnisse sie nicht gerettet, weil sie auf der Flucht vor den Russen
kanisterweise Benzin von amerikanischen Soldaten erbetteln konnte? Es ging,
wohlgemerkt, nicht um das Benzin als Benzin, sondern darum, dass man mit dieser
Kostbarkeit auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel besorgen konnte.
    Für ihr
oberstes Ziel, die gesicherte und kultivierte bürgerliche Existenz ihrer
Familie, wurde sie zur Meisterin der Vielseitigkeit: Nach außen hin konnte sie
kantig und kämpferisch sein, gerade wenn es um uns Kinder ging, im
Binnenverhältnis polierte sie ständig seelische Oberflächen, ebnete Konflikte
ein und ging schmerzenden Fragen aus dem Weg. Sie war der Champion der

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