Kohl, Walter
nachzudenken.
Was ist
mein Sinn?
Dies war
die eigentliche Frage. Die Frage aller Fragen für mich. Die Version eines
Erwachsenen von der Frage eines Kindes:
Papa, ist
das Leben schön?
Einsicht
in das, was für einen selbst richtig und gut ist, beginnt meist mit der
Einsicht, dass etwas nicht richtig
und gut für einen selbst ist. Nun, ich wusste jedenfalls bereits, dass es nicht
richtig und nicht gut für mich wäre, weiter der Kümmerer, der Unterstützer,
der Zuarbeiter und der Assistent zu sein. Wirkliche Verantwortung zu
übernehmen, auch selbst zu führen - das wäre etwas anderes, im Hinblick auf
meine Beziehung zu den Menschen. Aber dahinter stand wiederum noch etwas
anderes, nämlich die Frage: Wie stehe ich eigentlich zu mir selbst? Wofür stehe ich?
Aus welcher inneren Quelle speist sich mein Handeln? Aus der mir aufgepfropften
Rolle eines »Sohns vom Kohl« oder aus dem gesunden Selbstbewusstsein Walters,
der dazu steht, dass er seine eigentliche Rolle im Leben erst noch finden muss,
weil er ja erst nach seinem vierzigsten Geburtstag begonnen hat, auf die Suche
nach sich selbst zu gehen. Es ging darum, mein authentisches Selbstbild zu
finden, ich musste klären: Was bin ich - und was bin ich nicht?
Irgendwann
war ich dann in Gedanken so weit und wollte Taten folgen lassen. Als erster
Schritt schien es mir ratsam, das Verhältnis zu meiner Mutter neu zu ordnen.
Aus einer spontanen Eingebung heraus nahm ich das Original ihres Abschiedsbriefs
und steckte auch eine Packung Streichhölzer ein. Am Grab angekommen, legte ich
den Brief auf die Stelle, unter der ihr Sarg liegt, und zündete ihn an. Dabei
sagte ich:
» Mama.
Ich gebe dir deinen Brief zurück. Ich habe meine Aufgabe
erfüllt, so gut es ging. Nimm du deins, ich trage meins. Du bist deinen Weg
gegangen, ich gehe nun meinen Weg. Ich wünsche dir alles Gute und bitte dich um
deinen Segen und deine guten Wünsche.«
Während
ich diese Worte laut, fast wie ein Gebet, sprach, verbrannte langsam der Brief.
Ich spürte sehr deutlich, dass eine große innere Last von mir abfiel, dass ich
nun frei sein konnte, Neues zu lernen und ihren Tod in Frieden anzunehmen.
Wohlgemerkt: um zu lernen. Ein Gefühl
der Freiheit und der inneren Weite tat sich in mir auf. Der Zauber dieser neuen
Freiheit wirkte nicht sogleich, aber schon nach kurzer Zeit spürte ich die neue
Kraft in mir.
Kurz
danach geriet ich mit meinem Vater wegen einer wichtigen familiären
Angelegenheit in einen heftigen Streit. Spontan entschied ich nun, mich nicht
mehr nach meinem bisherigen Schema der Anpassung zu verhalten. Ich war nicht
länger bereit, die alten Kompromisse zu schließen und wider besseres Wissen um
des lieben Friedens willen seiner Meinung zuzustimmen. Diesmal, so beschloss
ich, würde ich konsequent zu meiner Ansicht stehen. Mein Vater vertraute auf
seine üblichen Methoden in unseren Konflikten: erst Verniedlichung, dann
Aussitzen und schließlich, wenn nichts anderes mehr half, rhetorische Härte und
Abbügeln aller für ihn unangenehmen Argumente.
Jetzt
hatte ich genug. Ich wusste, es war Zeit, ein Zeichen zu setzen. Ich äußerte mich
nicht mehr zu der Angelegenheit und fuhr nach Hause. Dort packte ich alle
Unterlagen, die ich für meine Assistententätigkeit in Oggersheim benötigte, sauber
sortiert und mit To-do-Listen versehen in mehrere Umzugskisten, fuhr zurück
nach Oggersheim und stellte alles in der Diele ab. Ich kündigte damit in
derselben rabiaten Art und Weise, mit der Vater sich selbst so manches Problem
vom Hals zu schaffen pflegte. Damit zog ich eine rote Linie, die nicht mehr zu
überschreiten war. Auch wenn ich dabei einen Hauch von schlechtem Gewissen
verspürte, so überwog doch die Gewissheit, dass es so und nicht anders richtig
war.
Und da war
sie wieder, jene fast magische Kraft, dank derer sich auf einmal ganz neue
Räume erschlossen. Nun hatte ich mich auch gegenüber meinem Vater neu
positioniert, ich fühlte mich gegenüber meinen beiden Eltern ganz neu aufgestellt.
Es war eine wirkliche Befreiung, und es blieb nicht dabei. Ich offenbarte auch
Kyung-Sook meine Liebe, und bald darauf begannen wir, unser Leben gemeinsam zu
gestalten. Heute sind wir verheiratet.
Endlich
hatte ich eigene Standpunkte gefunden und auch durch Taten markiert und
manifestiert. Natürlich hatte das zur Folge, dass unmittelbar nach meiner
»Kündigung« verschiedene Freunde meines Vaters mich anriefen und belehren
wollten, dass ich so nicht mit ihm umgehen könne, dass
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