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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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gänzlich
unterschiedliche Konsequenzen für ihr Leben.
    Bis in ihr
zehntes Lebensjahr lebte meine Mutter in Leipzig, als wohlbehütete Tochter aus
gutem Hause. Dann kamen die Bombennächte. Für sie und ihre Eltern begann eine
jahrelange Odyssee, mit der Flucht vor dem Krieg, dem Hunger, den Russen. Sie
war noch keine zwölf Jahre alt, da leistete sie in Döbeln/Sachsen
»Bahnhofsdienst«. Das heißt, sie war als Helferin für die Betreuung von Flüchtlings-
und Verwundetenzügen aus dem Osten eingesetzt. Sie sah sterbende Menschen,
zerschossene Leiber, Kinder, die sich an ihre toten Mütter klammerten. Einige
Wochen nach Kriegsende hatte sich die Familie nach Mutterstadt bei
Ludwigshafen, dem Heimatort des Vaters, durchgeschlagen.
    Ihre
Erinnerungen handelten vom Terror der Bombennächte, vom Elend des Krieges, von
den Demütigungen der Flucht; Verletzungen, die nie vergessen wurden. Die
seelischen Narben, die sie hinterließen, ließen meine Mutter empfindsam werden
für kleinste Dissonanzen in dem Leben, das sie für sich, ihren Mann und ihre
Kinder aufbaute.
    Für immer
blieb »der Krieg« ein ständiger Begleiter für sie, und das in einem sehr
konkreten, sinnlich erfahrbaren Sinn. Bilder, Gerüche, Geräusche von damals
waren im Unterbewusstsein unlöschbar abgespeichert und drängten sofort heraus,
wenn nur die entsprechende Assoziationskette durch - teilweise ganz banale -
äußere Eindrücke ausgelöst wurde. Als unser Haus in Oggersheim in den
1980er-Jahren, wie beschrieben, aus sicherheitstechnischen Gründen umgebaut
werden musste, bat ich sie, im Zuge der baulichen Maßnahmen im Garten doch
auch eine Grillecke einzurichten. Es war lediglich ein Versuch, die mir günstig
erscheinende Gelegenheit zu nutzen, um einen einfachen Wunsch erfüllt zu bekommen.
Für sie dagegen war es der Auslöser für einen Flashback, ein plötzliches Überwältigt-Werden von der Erinnerung an den Krieg.
Sie flippte geradezu aus. Nie wieder käme ihr offenes Feuer ins Haus, schrie
sie mich an, als ob durch meine naive Bitte ein Überdruckventil geöffnet worden
sei. Es sprudelte nur so aus ihr heraus: ihre Erinnerungen an einstürzende
Häuser, durch Phosphorbomben in Flammen gesetzten Asphalt, an den Geruch von
verbranntem Menschenfleisch. Ich schwieg und hakte meinen Wunsch ab.
    Doch dann
überraschte sie mich. Der Umbau schritt voran, und zu meiner großen
Überraschung war auf einmal eine kleine Grillecke installiert. Ich war baff,
traute mich aber nicht, sie darauf anzusprechen. So war sie, unsere Mutter: Sie
verfügte immer wieder über überraschende Reserven, wenn es darum ging,
Selbstüberwindung zu beweisen und damit ihren Kindern ein Vorbild zu sein. Die
Grillecke blieb bis heute unbenutzt, denn ich habe es nie übers Herz gebracht,
offenes Feuer in ihr Haus zu bringen.
    Natürlich
hörten wir Kinder viel, sehr viel vom Krieg und von der Flucht. Mutter
schilderte eindringlich die Angst und die Gefühle der Ohnmacht gegenüber all
der Gewalt und dem Elend, die alle Menschen damals empfanden. Und sie wurde
nicht müde, uns zur Dankbarkeit für den Frieden und Wohlstand, den wir
genossen, zu erziehen. Immer wieder betonte sie, dass sich alles jederzeit und
schlagartig wieder ändern könne. Ja, sie lebte in der festen Überzeugung, dass
man von heute auf morgen wieder alles verlieren könne. In gewisser Weise blieb
sie zeitlebens ein heimatloser Mensch. Immer wieder brach ihre Angst durch,
dass sich der damalige Absturz aus gesicherten Verhältnissen noch einmal
wiederholen könnte.
    Im
Frühjahr 1975, im Alter von zwölf Jahren, wollte ich meiner Mutter meine Angst
vor einem terroristischen Anschlag auf unsere Familie offenbaren. Die ständige
Anwesenheit bewaffneter Polizisten, der persönliche Personenschutz für mich
auf dem Weg zur Schule bedrückten mich sehr, aber es wurde doch wenig darüber
gesprochen. Nur abends, beim Zubettgehen, wenn meine Mutter mir Gute Nacht
sagte, war dies ohne Störung möglich. Und einmal ergriff ich die Gelegenheit,
ich »nagelte sie fest«. Den Mut dazu bezog ich aus dem Verlauf des
vorangehenden Tages. Wir waren alle vier beim Ehepaar Lorenz in einem Hotel in
der Südpfalz zu Besuch gewesen. Peter Lorenz, der Berliner CDU-Vorsitzende,
und unser Vater fühlten sich freundschaftlich miteinander verbunden. Peter
Lorenz war von Terroristen entführt worden und kurz zuvor aus seiner Geiselhaft
freigekommen. Ich erlebte ihn als von seiner Qual gezeichneten Mann und hegte
ein tiefes

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