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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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unerwarteter Seite. Es gibt, im wahrsten Sinne des Wortes,
Bücher, die neue Wege weisen können. Ein solches Buch entdeckte ich durch
Zufall - oder Fügung? Ich hatte in einer Zeitschrift von einer Frau gelesen,
die als politische Dissidentin in philippinischen Gefängnissen gelitten hatte.
In dem Artikel wurde ein Buch von Viktor Frankl erwähnt. Den Namen kannte ich
vage, das Buch aber nicht. Frankls Gedanken hatten dieser Frau viel Kraft und
Inspiration gegeben, so las ich. Mehr aus Langeweile denn aus Interesse
recherchierte ich im Internet über Viktor Frankl und war überrascht, welchen
Schatz ich entdeckt hatte. Schon der Titel des Buches packte mich. ...
trotzdem Ja zum Leben sagen.
    Als Jude
wurde Frankl aus seiner Heimatstadt Wien nach Auschwitz deportiert und
überlebte die Gefangenschaft in mehreren Konzentrationslagern nur knapp. Nach
jahrelanger Lagerhaft wurde er im April 1945 von US-Truppen befreit. In seinem
schmalen, aber inhaltsschweren Buch berichtet er, wie er mit dem Horror der
Vernichtungsmaschinerie umging. Ich möchte hier wiedergeben, was er unter der
Überschrift »Was weh tut« schreibt:
    »Der
körperliche Schmerz, den Schläge verursachen, ist - bei uns erwachsenen
Häftlingen ebenso wie bei gezüchtigten Kindern! - nicht das Wesentliche; der
seelische Schmerz, will heißen die Empörung über die Ungerechtigkeit beziehungsweise
die Grundlosigkeit, ist dasjenige, was einem in diesem Moment eigentlich weh
tut.«
    Dieser
einzige Satz, geschrieben von einem Mann, der Schmerz, Demütigung und
Entpersönlichung in viel, viel intensiverer Form erlebt hatte als ich selbst,
brachte auch meine Erfahrung auf den Punkt: Am schlimmsten ist jener Schmerz,
der völlig grundlos zugefügt wird, der nicht einmal als Bestrafung für
irgendwelche Verfehlungen gerechtfertigt werden kann. Die bohrende Frage nach
dem Warum erhält niemals eine befriedigende Antwort. Jeder Kampf gegen das
Unrecht läuft ins Leere, weil Unrecht keines Grundes oder Anlasses bedarf, um
jemandem zugefügt zu werden. Es geht einzig und allein um Macht - Macht über
Menschen, die aus Gründen, die nicht in ihnen selbst liegen, anders sind, als
sie sein sollten.
    Es war
aber gerade die ungeheure Differenz in der Intensität einer im Kern gleichartigen
Erfahrung, die mich an Frankls Schilderung beeindruckte - und beschämte. Ich
beklagte mich darüber, dass mir ein selbstbestimmtes Leben versagt blieb,
obwohl es mir so unendlich viel besser ging, als es ihm gegangen war - er
dagegen klagte nicht. Vielmehr feierte er das Leben. Ja, er feierte es,
inmitten tödlicher Gefahr und dumpfester Resignation. Das war ein Schock, der
Ordnung in meine Gedanken und teilweise sogar in meine Gefühle brachte. Ich
begriff, dass ich herausgefordert war, nochmals bei null anzufangen. Ich
spürte, dass ich die Kraft aufbringen musste, um meine Einstellung zum Leben zu
hinterfragen und alte Muster aufzulösen, allem voran meine Neigung, mich selbst
zum Opfer zu stilisieren.
    Hier saß
ich in meinem schönen, warmen Wohnzimmer, lümmelte mich im bequemen Sessel und
hatte einen traumhaften Blick auf eine friedliche Landschaft. Im Buch auf meinem
Schoß wurde die Apokalypse beschrieben, wurde von Menschen berichtet, die alles
verloren hatten und die es trotzdem schafften, ungebrochen zu bleiben. Welch
ein Kontrast: Ich hatte reichlich Nahrung, ich hatte einen Beruf, Familie,
alle materiellen Bedürfnisse waren gestillt. Und trotzdem dachte ich über
Selbstmord nach! Dort aber waren gequälte Menschen, die wahrhaftig am Abgrund
standen. Sie durchlebten unfassbare Leiden und Ängste. Frankl berichtet alles
in einer ruhigen, fast entrückten Weise, die das Erzählte umso packender macht.
Er jammert nicht, er findet einen Sinn im Erlebten.
    Ich las
das Buch ein zweites, ein drittes Mal, und ein großer Druck entstand in mir. Es
war, als ob mich dieses Buch mit einer tiefen Nadel stach. Die Nadel trug einen
Namen, sie stach zu mit einer Frage: Was ist mein Sinn?
    Aber noch
konnte ich diese Herausforderung nicht konkret fassen. Deshalb begann ich mich
mit Frankl und seinem Werk näher zu beschäftigen. Ich entdeckte die von ihm
entwickelte Logotherapie und las weitere seiner Schriften. Ich fand im Internet
Informationen zu seinen Vorträgen, ich konnte sein Gesicht in Videos sehen,
seine Stimme hören und somit ein lebendiges Bild von ihm entwickeln. Und so
arbeitete ich mich in die Kernfrage seines Wirkens hinein, ich begann über die
Sinnfrage zu lesen und

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