Kohl, Walter
diesen Preis
fordert der eigene Erfolg. Mein Vater hat diese politische DNA in hohem Maße.
Wie ein
begnadeter Maler einfach malen muss, wie ein genialer Musiker einfach sein
Instrument spielen muss, so muss ein Mensch mit starker politischer DNA einfach
politisch tätig sein. So ist er, der homo politicus, er kann
nicht anders. Dies ist keine Wertung, sondern eine schlichte Beobachtung. Jeder
Mensch muss seiner Berufung folgen, wenn er denn eine hat.
Macht ist
der universelle Rohstoff des politischen Lebens. Dass mein Vater in seiner
Lebenseinstellung immer exklusiv auf die Macht hin orientiert war, ist
offensichtlich. Ich kann auf die praktischen Folgen für unser Familienleben und
für mich selbst verweisen, aber ich darf ihm nicht den Vorwurf machen, er sei
nicht klar und eindeutig gewesen. Ja, man konnte immer in ihm lesen wie in
einem offenen Buch, auch wenn ich lange brauchte, um zu verstehen, was ich las,
und selbst wenn manches Kapitel nicht eben leicht zu verdauen war.
Der Wert der Versöhnung
Mein »Opferland« hatte für mich lange Zeit einen Namen:
Kohl. Meine Herkunft war das Blei in meinen Schuhen. Durch die stete
Wiederholung gewisser Erfahrungen glaubte ich fest, dass ich diesem Schicksal
nicht entrinnen könnte, und trat lange Zeit auf der Stelle. Statt mich von
meinem Dogma freizumachen, band ich mir noch selbst die Hände. Die meiste Kraft
ging ins Innere, in die gefühlte Misere. Das ist so, als ob man einen mit Luft
aufgepumpten Ball für immer unter Wasser halten wollte: Je länger man ihn nach
unten drückt, desto müder wird man, und je tiefer man ihn nach unten drückt,
umso höher springt er anschließend wieder heraus. Erst durch einen Prozess der
Versöhnung vermochte ich mit jenem Teil meines Lebens meinen Frieden zu machen,
den ein Mensch nicht ändern kann, weil er uns schicksalhaft gegeben ist. Und
auch mit jenem Teil, den er nicht mehr ändern kann, da er Vergangenheit ist, also mit all den großen und
kleinen persönlichen Katastrophen, die Verletzungen hinterlassen haben.
Für mich
geht es bei der Versöhnung um die Heilung von Beziehungen im umfassenden Sinn:
der Beziehung zu sich selbst, zu den Umständen des eigenen Lebens und zu
anderen Menschen. Was mich selbst betrifft, so ging es dabei auch um meine
Beziehung zu Gott. Versöhnung ist ein Turnaround der
Sichten und Verhaltensweisen, zur gedeihlicheren Entwicklung des Einzelnen und
der Gemeinschaft. Am deutlichsten wird das, wenn sie bewirkt, dass negative
psychische Energien wie Hass, Zorn, Eifersucht und die sie begleitenden
Zustände von Schmerz, Isolation und Verlassenheit durch ihre Kraft in Frieden
und Harmonie, in Verstehen und Toleranz umgewandelt werden. Ja, vielleicht ist
»psychischer Energiewandel« ein begrifflicher Nenner, auf den man das Werk der
Versöhnung in einfachster Weise bringen kann.
Somit wäre
Versöhnung - ganz zeitgemäß - eine Form des Energiemanagements. Das ist kein
Psychotrick, sondern in der Welt der Gefühle und Gedanken, in deren Mitte ein
jeder von uns auf seine Weise lebt, eine schlichte Normalität. Ich möchte das
an einem einfachen Beispiel illustrieren, mit dem - in analoger Form - der
»psychische Energiewandel« im Versöhnungsprozess beschrieben werden kann.
In der
asiatischen Kampfkunst Aikido geht es, wie immer beim Kämpfen, um Sieg oder
Niederlage. Nur besteht hier die Kunst nicht darin, hart zuzuschlagen, sondern
angemessen auf eine Attacke zu reagieren. »Angemessen« bedeutet wiederum, die
Energie des Angriffs so umzulenken, dass sie sich letztlich gegen den Angreifer
selbst wendet. Es handelt sich also nicht darum, zwei Kräfte unkontrolliert aufeinander
loszulassen, um die eine obsiegen zu lassen, sondern um eine Änderung des
Charakters der Kraft selbst: Aus Angriffskraft wird Verteidigungskraft - ein
Energiewandel, von geradezu entwaffnender Wirksamkeit. Versöhnung wäre demnach
eine Art Seelen-Aikido.
Das klingt
nach einer griffigen Formel, ist aber, wie ich zugeben muss, natürlich nur
eine Analogie. Man sehe mir nach, wenn ich keine ausgefeilte »Theorie der
Versöhnung« anzubieten habe, aber um weiter zum Kern des Themas vorzudringen,
möchte ich an dieser Stelle eine Geschichte erzählen, die ich von meiner
koreanischen Frau Kyung-Sook gehört habe.
Judy kam
kurz nach dem Koreakrieg in den USA zur Welt. Das Mädchen war von Geburt an
blind. Ihr Vater war als amerikanischer Soldat in Korea gefallen, die Mutter
gab sie schon als Baby ins Waisenhaus, sie
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