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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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positive transformiert: Die Liebe des Kindes zur Mutter kann offen hervortreten,
sie kann wieder frei fließen.
    Nur
oberflächlich betrachtet handelt diese Geschichte von körperlicher Blindheit.
Auf einer tieferen Ebene ist sie ein Gleichnis für geistige Blindheit, für eine
Verleugnung der Realität. Physische Blindheit und Nicht-sehen-Wollen,
Nicht-wahrhaben-Wollen werden zu einem vielschichtigen Bild verwoben. Beide,
Mutter und Tochter, sind körperlich blind, doch durch ein grundlegendes
Missverstehen zwischen ihnen hat die Blindheit auch ihre Herzen ergriffen.
    Die
wechselseitige Blindheit von Mutter und Tochter umfasst gleich mehrere
Lebensbereiche. Die Geschichte zeigt uns, welchen Schmerz das
Nicht-sehen-Wollen bei dem betroffenen Menschen, aber auch in seinem Umfeld
auslösen kann. Im Sinne physischer Blindheit kann die Tochter nicht sehen, im
Sinne emotionaler Blindheit kann sie nicht annehmen. Bis zum Moment der
Berührung durch die Mutter erschien es ihr als unverrückbare Wirklichkeit,
dass ihre Mutter sie als kleines Kind deshalb aufgegeben hatte, weil sie blind
geboren und deshalb nichts wert gewesen sei. Für Judy war ihre eigene
Unzulänglichkeit der Grund für ihr schweres Schicksal. Ihre Mutter, so glaubte
sie, wollte kein blindes Kind, kein zweitklassiges Mädchen, weil ein solches
Kind nur Mühe und Enttäuschung bereiten würde. In ihrem überaus verständlichen
Schmerz hat die Tochter niemals versucht, sich in die Rolle der Mutter zu
versetzen, sie hat niemals die Frage gestellt, ob es vielleicht andere Motive
für deren Entscheidung gab.
    Zunächst
mag man da gar keinen Zweifel hegen: Die Tochter ist das Opfer, sie fühlt sich
zu Recht als benachteiligt. Schließlich wurde sie als Kind von ihrer Mutter
trotz - nein, sogar wegen - einer Behinderung verlassen. Ein grausamer
Verdacht, der zum Bild einer grausamen Mutter führt.
    Die Blindheit
der Tochter, ihre in jeder Beziehung unverdiente Behinderung, wird zum
Schrittmacher ihres Lebens. Nicht genug, dass sie blind ist, nein, sie muss
sich trotz ihrer schweren Behinderung auch noch allein durchschlagen, ohne den
Schutz und die Fürsorge einer Mutter. Ihr Opferstatus ist unumstößlich -
schließlich muss sie ihr Leben ganz allein meistern, zudem stark benachteiligt,
ohne eigenes Verschulden. Ihr Schmerz ist so überwältigend, dass alle anderen
Deutungsmöglichkeiten, alle Anknüpfungspunkte für die Herausbildung einer
anderen Identität als der des Opfers darunter begraben werden. In der Folge
richtet Judy ihre Gedankenwelt im Opferbewusstsein ein und verschließt vor
sich selbst alle Türen, die aus der Identifizierung mit Schmerz und Ausweglosigkeit
hinausführen könnten.
    Doch
diese, bis hierhin scheinbar völlig eindeutige, Geschichte bekommt eine
unerwartete Wendung. Blinde Tochter trifft auf blinde Mutter! Und dies ist die
eigentliche Botschaft der Geschichte: Wir alle sind mit Blindheit geschlagen.
Doch indem sich die Herzen öffnen, können wir unser geistiges Nicht-Sehen
überwinden. Indem die Gefühle gewandelt werden, beginnen wir zu sehen, zu
akzeptieren, zu verstehen. So wird es möglich, dass Menschen sich gegenseitig
so annehmen, wie sie sind. Sie finden zum Einverstandensein mit sich und der
Welt.
    So zeigt
diese in Korea übrigens sehr bekannte Geschichte, wie Menschen in einem sehr
gravierenden und schmerzhaften Konflikt durch eine neue Sichtweise ihren alten
Schmerz überwinden und zu einem neuen Miteinander in Frieden und Harmonie
finden können. Versöhnung tilgt jede alte Schuld, heilt jede alte Wunde.
Beziehungen werden erneuert und geheilt. Denn Versöhnung richtet nicht, sie
sucht keine Schuldigen, sie zeigt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf vermeintliche
Übeltäter. Sie klagt nicht moralisierend an. Das zentrale Anliegen der
Versöhnung ist die Überwindung der alten Schuld- und Opfergefühle.
    Entscheidend
ist der gemeinsame Wille des »Opfers« und des »Schuldigen«, die Gegebenheiten
anzunehmen und zusammen zu bearbeiten. Durch Kooperation in der Überwindung
von Schuld und Schmerz wird Frieden geschaffen. Dieser innere Prozess der
Wandlung hat etwas vom äußeren Wachstum in der Natur: Wie aus Verrottung und
Verwesung düngender Humus entsteht, so können die Wandlungskräfte der
Versöhnung aus Misstrauen und Hass Vertrauen und Liebe wachsen und aus
erbitterten Gegner echte Freunde werden lassen.
    Versöhnung
muss bewusst erarbeitet werden, aber sie macht glücklich wie ein Geschenk. Das
kommt

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