Kohl, Walter
daher, weil auch sie, wie jedes echte Geschenk, aus einem offenen Herzen
kommt. Um dieses Geschenk zu erhalten, müssen alle Beteiligten sich überwinden,
ihre bisherige Sichtweise umstellen und ihre Gefühle wandeln. Kontrahenten müssen
gleichsam mit neuen Augen auf die Handlungen und Motive des jeweils anderen
schauen. Sie müssen auch davon absehen, ihre eigenen Verletzungen hoch- und
die der anderen herunterzuspielen. Nicht zuletzt muss jeder seinen Schmerz
eingestehen.
Versöhnung
ist ein echtes Stück Lebenskunst - vielleicht eines der herausforderndsten
Kapitel in der Kunst des Lebens.
Wie in der
Malerei, der Musik oder dem Tanz ist ihr Repertoire unerschöpflich. Es kann
sich nicht verbrauchen, es ergänzt und erneuert sich mit jedem Akt der
Versöhnung immer wieder. Die Fähigkeit zur Versöhnung ist unsere Fähigkeit,
schmerzende, negative Energie in heilende, positive Energie zu transformieren,
in Harmonie, Kreativität und Freude. Das ist die Kunst des friedlichen
menschlichen Miteinanders.
Eines der
Geheimnisse des psychischen Energiewandels ist, dass Glück und Unglück nicht
nur nahe beieinanderliegen, wie der Volksmund sagt, sondern dass sie sich
gegenseitig bedingen. Ohne Glück kein Unglück und umgekehrt. Deshalb kann auch
die Energie des Glücks in die Energie des Unglücks gewandelt werden und
umgekehrt.
Einmal
beschwerte sich mein Sohn, damals in der dritten Klasse, bitterlich bei mir
über eine aus seiner Sicht ungerechte Lehrerin. In schillernden Farben
schilderte er mir ihre unangemessene Strenge, ihre harten Strafen und ihre
unfaire Benotungspraxis. Eine Menge angestauten Frusts brach hervor. Als er
geendet hatte, sagte ich nichts. Mit beredten Blicken forderte er mich zu
einer Stellungnahme auf. Was denkst du? Verstehst du mich nicht? So stand es in
seinen Augen geschrieben. Ich schwieg noch einen weiteren Moment, aber dann
antwortete ich ihm, dass ich ihn verstünde. Gut sogar. Offenkundig war es
wirklich nicht so ganz in Ordnung, wie diese Lehrerin sich verhielt. Dann schwieg
ich erneut. Enttäuscht schaute er mich an, er hatte auf eine andere Antwort
gehofft. Allerdings, fuhr ich fort, habe die Sache ja auch ihr Gutes. Da war er
wieder, dieser fragende, ungläubige Blick in seinen Augen, gemischt mit
steigendem Unwillen. Ich fragte ihn, wie es denn mit den anderen Lehrerinnen
aussehe. Ach, die seien eigentlich ganz nett, antwortete er und lieferte eine
detaillierte Schilderung, die ihn schon wieder in etwas bessere Stimmung
versetzte.
»Siehst
du, wenn es die böse Lehrerin nicht gäbe, dann wüsstest du gar nicht, wie nett
die anderen eigentlich sind.«
Diese
Logik war ihm sofort verständlich.
»Die böse Lehrerin zeigt mir, wie nett die anderen Lehrerinnen
sind?«
»Genau,
erst das Böse hilft uns, das Gute zu erkennen. Und nur wenn du das Schwere
annimmst, kannst du das Schöne auch genießen.«
Der Satz
war mir herausgerutscht wie ein Stück reiner Butter, das man nicht im Mund
halten kann.
Da habe
ich aber große Worte gesprochen! Wenn ich das nur schon selbst einlösen könnte.
Dieser
Gedanke beschämte mich. Nur gut für mich, dass Kinder von einem Moment auf den
anderen zur Tagesordnung übergehen, wenn sie ein Thema für erledigt halten. Es
blieb mir erspart, weiter Stellung zu nehmen. Doch in Gedanken verweilte ich
noch länger bei unserem Gespräch. Ich spürte sehr deutlich den Zwischenzustand,
in dem ich mich befand: Gedanklich hatte ich innere Klarheit gefunden, in
meinen Gefühlen und in meinem Handeln hingegen war ich noch nicht so weit, wie
ich es mir vorgenommen hatte. Ich fühlte mich bereit, mein Schicksal
anzunehmen, es zu akzeptieren, so wie es ist. Aber ich würde erst noch
beweisen müssen, dass ich es auch wirklich vermochte. Wieder einmal hatte
mein Sohn mich auf den Prüfstand gestellt.
Versöhnung heißt, das Verbindende so über das Trennende und das
Heilende so über das Verletzende zu stellen, dass eine friedliche und
lebenswerte Lösung für den Konflikt möglich wird. Versöhnung ist ein Mittel
zur Entrümpelung unserer Gefühle, zur Heilung unserer Seele. Versöhnung ist
ein ganz praktisches Mittel, um unser Herz wieder bewohnbarer, unser Leben
angenehmer und uns alle glücklicher zu machen.
Ein heißer
Sommertag 1974. Urlaub der Familie Kohl in St. Gilgen am Wolfgangsee.
Die Bühne
für ein kleines Drama unter zwei Brüdern (elf und neun Jahre) ist bereitet. Da
ist dieses brandneue, knallrote Gummiboot, Typ »Forelle«. Die Sonne
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