Kohl, Walter
konnte sich nicht angemessen um ihr
behindertes Kind kümmern. Schon bald wurde Judy von Adoptiveltern aufgenommen,
die sehr lieb zu ihr waren. Bei ihnen lebte sie bis zu ihrer Volljährigkeit.
Die Mutter
bereute mehr und mehr, dass sie seinerzeit ihre Tochter weggegeben hatte. Aber
je mehr Zeit verging, umso schwieriger wurde es, die Tochter wiederzufinden. Über
das Waisenhaus erfährt sie schließlich, dass ihr mittlerweile erwachsenes Kind
eine Gesangsausbildung erhalten hatte. Eines Tages findet sie heraus, dass
Judy ein Engagement in einem Nachtklub in Los Angeles angenommen hatte.
Endlich,
nach so vielen Jahren, gelingt es der Mutter, Kontakt zu ihrer Tochter
aufzunehmen. Doch diese ist voller Hass auf sie und verweigert ein Treffen. In
ihrem Herzen tobt ein Kampf zwischen zwei Stimmen. Die eine spricht:
»Als ich
meine Mutter brauchte, hat sie mich weggeworfen. Als blinde Tochter war ich für
sie eine Belastung, eine Schande. Warum sollte ich ihr jetzt vergeben?«
Die andere
entgegnet:
»Aber denk
doch mal nach. Vielleicht hat deine Mutter ihre Gründe gehabt. Sie will dir
etwas sagen. Wäre es nicht gut, wenn du ihr nur einmal diesen Wunsch erfülltest?«
Judy
findet keine Ruhe. Schließlich wird ein kurzes Treffen vereinbart, und beide
stehen sich gegenüber. Die blinde Judy fasst Mut und spricht in die Dunkelheit,
die sie umgibt, hinein:
»Guten Tag, bist du meine Mutter?«
»Ja, ich
bin es. Deine Stimme hat sich nicht verändert, sie ist wie früher.«
Judy hatte
eigentlich ihre Gefühle bezähmen wollen, aber sie schafft es nicht. Wütend und
enttäuscht gibt sie zurück:
»Warum
hast du mich überhaupt gesucht? Hör auf, mich zu quälen!«
»Mein
Kind, komm bitte her, ich will dich ganz nahe bei mir haben.«
Nur unter
Widerwillen macht Judy einen einzigen Schritt nach vorn. Sie spürt den Atem
ihrer Mutter auf ihrem eigenen Gesicht. Sie sind sich jetzt ganz nahe. Da
streckt die Mutter langsam und behutsam ihre zitternden Hände aus, um Judys
Schulter zu berühren. Ganz zärtlich bewegen sich die Hände zum Gesicht ihrer
Tochter. Mit sanften Handbewegungen tastet die Mutter das ganze Gesicht ihrer
Tochter zärtlich ab ...
Dann zieht
sie ihre Hände zurück und sagt mit liebevoller Stimme:
»Oh, du
bist aber groß geworden, und wie schön du bist.« Judy durchfährt ein unsagbarer
Schock. Ein Weinkrampf ergreift sie.
»Mama«,
schluchzt sie, »du auch ... Mama, auch deine Augen ... Mama, auch du bist
blind?«
»Ja, mein
Kind, ich kann nicht sehen. Aber ich habe immer gewusst, dass ich meine Tochter
erkennen kann, egal, wo auf der Welt ich sie treffe.«
Judy
stöhnt auf, in zutiefst widersprüchliche Gefühle gestürzt.
»Ach,
Mutter, wenn ich nur gewusst hätte, dass du auch blind bist ... Ich hätte nicht
mit diesem Hass gelebt, mit diesem Gefühl, dass du mich weggeworfen hast.«
So konnte
Judy endlich verstehen, dass ihre Mutter sie nicht weggegeben hatte, weil sie
sich durch ein behindertes Kind belastet gefühlt hatte. Nein, die Mutter hatte
sich dazu überwunden. Aus Liebe. Als Kriegswitwe und als behinderte Mutter
hatte sie keine Chance gehabt, ein ebenfalls schwerbehindertes Kind so
aufzuziehen, wie dieses es verdiente. Deshalb gab sie auf, was ihr selbst am
liebsten war.
Ich mag diese
Geschichte. Sie ist nicht intellektuell, sie ist nicht wissenschaftlich, sie
ist einfach nur klug. Diese Geschichte, so einfach sie ist, erklärt den
psychischen Energiewandel durch die Kraft der Versöhnung.
Das
Mädchen Judy lebt in dem Bewusstsein, ein Opfer zu sein. Sie hadert mit ihrem
Schicksal. Sie versteht nicht, warum sie weggegeben wurde und sich allein
durchschlagen musste. In Unkenntnis über die wahren Gründe dafür, voller
Schmerz, findet sie ihre ganz persönlichen Antworten auf die Fragen, die sie
sich wegen ihres harten Schicksals naturgemäß stellt. Diese Antworten sind
zunächst »richtig«, sie »passen«, aber nur so lange, wie Judy sich im
Opferbewusstsein befindet. Dies ändert sich, als sie durch die unerwartete
Begegnung mit ihrer Mutter die wahre Ursache von deren folgenreicher Entscheidung
erfährt. Judy akzeptiert sie. Und durch diese Akzeptanz können der alte
Schmerz, der alte Zorn und Groll in Verstehen, Respekt und inneren Frieden
gewandelt werden. Der Hass, den Judy bis zu dieser Begegnung in sich trug, war
eigentlich immer schon Ausdruck der Liebe zur Mutter gewesen, wenn auch ein
verformter, negativer Ausdruck. Nun aber wird negative Gefühlsenergie
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